Sybille und Manfred Specht Flieg Gedanke
Flieg Gedanke
Flieg Gedanke

5

  • 0
  • 0
  • 0
Поделиться

Полная версия:

Sybille und Manfred Specht Flieg Gedanke

  • + Увеличить шрифт
  • - Уменьшить шрифт


Flieg Gedanke

1. Auflage, erschienen 3-2021

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Sybille und Manfred Specht

Coverbild: Robert Specht

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-835-7

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Flieg Gedanke

Inhalt

Vorwort

Manfred: Mein Geburtsort

Meine Eltern und Großeltern

Meine Einschulung

Evakuierung

Der Feuersturm am 16. Januar 1945

Kriegsende und Besatzung

Wieder zurück in Magdeburg

Magdeburg wird sowjetische Besatzungszone

Unser Wechsel nach Riesa

Der lange Schatten und der 50. Breitengrad

Studium an der TH Dresden

„Stud. ing. Heinrich Flasche“– ein Schattenspiel

Sybille: Geboren in Sachsen, aufgewachsen in Berlin

Manfred: Studium-Ende und beruflicher Einstieg

Die ersten Tage beim VEB Volksbau

Übersiedlung und Neubeginn

Mein zweiter Berufseinstieg

KB-Chef in Hannover

Sybille: Von der Brieffreundschaft zur Verlobung

Manfred: Ein Berliner Mädel

Lebensbund und Exodus

In bulgarischer Obhut

Zurück in München

Sybille: Der Weg in eine gemeinsame Zukunft

Manfred: Unser Weg zum glücklichen Ausgang

Unser gemeinsamer Lebensweg

Wohnung und Eigenheim in Hannover

Berufliche Herausforderung und Promotion

Sonderfälle im beruflichen Alltag

Umzug nach Koblenz

Ruf nach Berlin

Die ersten Jahre als akademischer Lehrer und Forscher

Unser Zuhause in Berlin und unser Ferienhaus in Schweden

Bürogründung und Wiedervereinigung

Pensionierung

Ansprache zu meiner Verabschiedung als Universitätsprofessor an der Technischen Universität Berlin

Die leise innere Stimme

Unsere wichtigsten Interessensgebiete

Ausklang

Literatur

Danksagung

Vorwort

Immer, wenn wir unsere Geschichte erzählten, unseren Kindern, Enkeln und Freunden vom Reifen unserer gesegneten Verbindung, von unserer Liebe und unserem Kampf gegen die Zwangsgewalt der seinerzeitigen politischen Macht bis zur dankbaren, freien Gestaltung unserer Familie berichteten, wurden wir stets gedrängt: „Das müsst ihr unbedingt alles aufschreiben, für uns, für unsere Nachkommen. Schließlich ist es auch ein erinnerungswerter Teil der deutschen Geschichte.“

Viele Entscheidungen im späteren Leben erhalten ihren prägenden Ursprung bereits in der Vergangenheit. Das Unterbewusstsein, die Intuition, das zweite Gehirn, auch Bauchgefühl genannt, entwickelt sich schon in frühen Jahren durch schicksalhafte Erlebnisse. Als wir mit unserem Bericht begannen, erkannten wir schon am Anfang, dass an bedeutsamen Weggabelungen viele unserer gemeinsam getroffenen Entscheidungen ihre Prägung bereits in frühen Zeiten erhalten hatten. Jeder Gegenwind wollte uns vor allem auf die Probe stellen. Und so entstand dann doch ein Lebensbericht, selbstverständlich und ausführlich mit dem besonders gewünschten fesselnden Teil: ein Buch unseres Lebens.

Dabei beginnt jeder von uns mit der eigenständigen Schilderung seiner familiären Herkunft, seiner Entwicklung, dem Wagnis der Flucht aus der DDR und seiner weltanschaulichen Urteilskraft. Nach unserem voller Zuversicht geschlossenen Bund fürs Leben schildere ich, Manfred, in unser beider Namen den weiteren Weg in unsere gemeinsame Zukunft.

Es möge Euch gefallen.

Übrigens: Unser Lebensbericht ist nicht gendergerecht geschrieben, schon weil wir den Eindruck haben, dass es bei unseren Lesern mit der Sprachbeherrschung gut bestellt ist.

Boppard-Buchholz, im Oktober 2020

Sybille und Manfred Specht

Wir widmen dieses Buch unseren geliebten Kindern

Robert und Andrea,

und den uns ebenso ans Herz gewachsenen Enkeln

Clara, Nicolas und Cristian,

Maximilian und Konstantin

und in herzlicher Zuneigung auch unserer Schwiegertochter

Cristina

und allen mit uns verbundenen

Freunden.

Manfred:

Mein Geburtsort

Dort, wo die Mulde in die Elbe fließt, liegt die Stadt Dessau-Roßlau. Ein urbanes Zentrum im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt. Erst im Jahr 2007 vereinigten sich die beiden Städte Dessau und Roßlau, Dessau am Ostufer und Roßlau am Westufer der Elbe gelegen.

In Dessau, in dieser einst als Ackerbürgerstadt wahrgenommenen Ansiedlung, erblickte ich am 13. November 1937 das Licht der Welt. Bis dahin hatte sich Dessau sehr respektabel entwickelt, von ersten Anfängen als Handelsplatz, man kannte ihn unter dem Namen „Ein-Straßen-Stadt“, bis zum weltbekannten Industriestandort, allen voran die Junkers-Flugzeugwerke mit bis zu 40.000 Mitarbeitern.

Viele haben sicher schon einmal vom „Alten Dessauer“ gehört. Gemeint ist Leopold I., seit 1693 Fürst von Anhalt-Dessau. Er ist beachtliche 71 Jahre alt geworden. Für damalige Verhältnisse und bei seinem militärischen Lebenswandel als Feldmarschall in preußischen Diensten sicher nicht alltäglich. Er kämpfte erfolgreich in drei geschichtlich bedeutsamen Kriegen, wofür ihm der Preußenkönig in der Berliner Mohrenstraße ein Denkmal errichten ließ. Dort kann jeder von Euch ihn noch heute jederzeit besuchen.

Im Januar 1871 trat das anhaltinische Gebiet als Herzogtum Anhalt mit der Hauptstadt Dessau dem seinerzeit proklamierten Deutschen Reich als Bundesstaat bei.

Die kulturelle und politische Offenheit und Fortschrittlichkeit der Stadt zog immer wieder Persönlichkeiten mit neuen Ideen und Weitblick an. Einer der sicher bekannten Zuwanderer in jüngerer Zeit war Walter Gropius, der 1925 das Bauhaus nach Dessau verlegte.

Das Besondere meines Geburtsdatums

Anfang der neunziger Jahre überraschte Peter Plichta die Wissenschaftsgemeinde mit der Aussage, dass dieser Welt ein bisher verborgener, göttlicher Zahlenbauplan zugrunde läge, der durch einen ewigen Primzahlencode verschlüsselt ist. In mehreren Buchveröffentlichungen führt er seine Beweise an, unter anderem seien genannt: „Gottes geheime Formel“ (1) und „Das Primzahlkreuz“ Bd. I – III (2). Dort steht zu lesen: „Hinter den verdrängten Rätseln unserer materiellen Welt steckt ein geheimer Bauplan: ein Zahlencode, bei dem die Primzahlen eine herausragende Rolle spielen.“

So muss es erstaunen und regt zu vielerlei Gedankenspielen an, dass mein Geburtsdatum

13-11-19-37

ausschließlich aus Primzahlen besteht. Was kann das bedeuten? Ist mein Leben göttlich vorbestimmt oder dem Zahlencode eine real existierende Bedeutung zuzuweisen? Eine Antwort kann nur eine wertende Inventur meines Lebens geben, das ich hier nach bester Erinnerung niederschreiben will. Jeder Leser möge sich dann sein eigenes Urteil bilden.

Ich habe einen jüngeren Bruder. Etwa dreieinhalb Jahre nach mir kam Siegfried zur Welt, auch in Dessau, und man lese und staune, auch sein Geburtsdatum besteht ausschließlich aus Primzahlen:

13-3-19-41.

Um diese exzeptionelle Wiederholung gebührend einordnen zu können, muss bedacht werden, dass diese beiden Jahrgänge 1937 und 1941 die einzigen von 1931 bis 1943 sind, demnach über eine Zeitspanne von zwölf Jahren, die überhaupt durchgängige Primzahlen als Geburtsdaten, wie hier vorgestellt, enthalten können. Das klingt vielleicht höchst esoterisch, mysteriös, vielleicht aber auch substanziiert. Jedenfalls verheißungsvoll.

Ein wacher Blick in die Natur lehrt uns Demut und Zurückhaltung, was unser beschränktes menschliches Wissen anbelangt. Dinge, die wir nicht verstehen oder wahrnehmen, müssen noch lange nicht falsch sein oder nicht existieren. Belassen wir es daher einfach bei der dargelegten Feststellung und überlassen es des Schicksals Mächten.

Meine Eltern und Großeltern

Kurz vor Jahresende 1936, zwischen Weihnachten und Sylvester, gaben sich meine Eltern das Ja-Wort. Schaue ich meinen Bruder an und mich, kann ich sagen: Das habt ihr gut gemacht. Die schicksalhaften Stürme der Zeit aber haben diese Ehe zerzaust. Sie wurde 1955 geschieden. Fortan schuf meine geliebte Mutter in heldenmütiger Anstrengung das familiäre Fundament, auf dem mein Bruder und ich unsere Zukunft bauten. Von vielem davon wird noch die Rede sein. Alle in unserer Familie nannten sie nur Mutsch, und so will ich auch hin und wieder diesen Ehrennamen benutzen.

Die Mutsch, Hedwig Prager, wuchs als viertes von fünf Kindern auf einem kleinen Bauernhof in Bad Köstritz im Thüringer Land heran. Sie war gerade fünf Jahre alt geworden und ihr ältester Bruder Walter zehn Jahre alt, als der von langer Hand vorbereitete Erste Weltkrieg ausbrach und ihr Vater, mein Großvater Franz Prager, zur kaiserlichen Marine eingezogen wurde. Hof, Haus, Acker und Stall lasteten nun auf den Schultern der Mutter, meiner Oma, geborene Henriette Nagler. Zum Hof gehörten Hühner und stets war ein stolzer Hahn dabei, ein oder auch mal zwei Schweine, zwei Kühe und ein Ochse als Zugtier. Musste der beim Pflügen des Ackers helfen und die Kirchturmuhr schlug zwölf, blieb er spontan stehen und bestand auf einer einstündigen Stehpause. Anfängliches Antreiben blieb völlig wirkungslos. Auf diese Weise hatten dann auch die Oma und die zu Hilfsdiensten verpflichteten Knaben ihre erholsame Pause. Die Natur ist doch voller Wunder.

Zum Glück kehrte Opa unversehrt aus dem Krieg zurück. Seinerzeit schloss er sich aktiv dem Matrosenaufstand von Kiel an und lehrte auch mich, stets kritisch und abwägend zu sein. Sein Leibspruch war: „Und ist der Schwindel noch so dumm, er findet stets sein Publikum.“

Zu gern wollte meine liebe Mutter Sport treiben. In der Schule fiel sie auch auf diesem Gebiet besonders auf. Aber dafür fehlte einfach in der bäuerlichen Vorstellung und in der damals entbehrungsreichen Zeit jedes Verständnis. Ihre Eltern waren großzügig und ließen sie eine Lehrstelle als Schuhverkäuferin im benachbarten Gera antreten. Kostete es die Familie doch eine wochentägliche Eisenbahnfahrkarte. Und als tüchtige Schuhverkäuferin lernte sie später einen gewissen Hermann Franz Specht aus Roßlau bei Dessau kennen, lieben und heiraten.

Das Elternhaus meines Vaters war eine Fleischerei in Roßlau an der Elbe. Es wurde im eigenen Haus geschlachtet und jedes Verkaufsprodukt auch eigenhändig hergestellt. Mein Opa Hermann Franz Specht war schließlich ein sehr befähigter Schlachtermeister und in der Fleischerinnung hoch angesehen. Einmal im Jahr gab es einen besonderen Tag, an dem alle Handwerker mit ihren Gesellen in Berufstracht durch die Stadt zogen. Die Fleischer mit weißer Schürze, zur Dreiecksform gerafft. Opa Specht stets in der ersten Reihe der besonders Wertgeschätzten. Da erschien es völlig normal, dass auch der Sohn das Fleischerhandwerk erlernen sollte, um später das Geschäft zu übernehmen. Der aber wollte lieber Ingenieur werden. Am Ende gab er nach, absolvierte eine Fleischerlehre, um sich dann aber nach deren Abschluss doch zu verweigern. Auch politische Differenzen in den Dreißigerjahren zwischen Vater und Sohn hatten ihren Anteil.

Auch Opa Specht musste als Soldat in den Ersten Weltkrieg ziehen. Immer wieder hörten wir ihm gern und aufmerksam zu, wenn er von jenen entsetzlichen Geschehnissen und seinen persönlichen Wertungen sprach. Besonders verbitterten auch ihn die Lügen und Märchen der Siegerpropaganda und die ungeheure Geschichtsverdrehung durch den erpressten Versailler Vertrag und die Ächtung Deutschlands. In (4) S. 403 ist zu lesen:

Ein Jahrhundert der Propaganda, der Lügen und der Gehirnwäsche zum Ersten Weltkrieg liegt hinter uns. Aufgrund kognitiver Dissonanz fühlen wir uns unbehaglich angesichts der Wahrheit: dass es ein Grüppchen wohlsituierter englischer Rassenpatrioten war, die mit Unterstützung mächtiger Industrieller und Finanziers in Großbritannien und den Vereinigten Staaten den Ersten Weltkrieg auslösten. Die in London ansässige geheime Elite war fest entschlossen, Deutschland zu vernichten und die Welt zu kontrollieren. Ihre Handlungen sind für den Tod von Millionen ehrbarer junger Männer verantwortlich, die in einem stumpfen und blutigen Gemetzel verraten und geopfert wurden, um eine unehrenhafte Sache voranzutreiben.

Zu Beginn seiner Erwerbstätigkeit war Opa gewerkschaftlich engagiert, trat später der SPD bei. Sein Sohn dagegen neigte der aufgekommenen Neuen Bewegung zu und wollte auf diese Weise der historischen Demütigung seines Vaterlandes entgegentreten. Als ich meinen Vater später einmal daraufhin ansprach, zuckte er mit den Schultern und bemerkte: „Wir glaubten fest daran, für unser Land etwas Gutes zu tun.“

Beruflich fand er bei den expandierenden Junkers Flugzeugwerken als Werksschutzmann eine Anstellung, war stets bemüht, in technische Bereiche hinzuwachsen. Unser erstes Familiendomizil bezogen wir daher in Dessau in der Lutherstraße. Eine ausgefallene Örtlichkeit hat sich mir schon als Knirps tief eingeprägt, ein Obstgeschäft, in dem es Bananen gab. Bei jeder Vorbeifahrt im Kinderwagen forderte ich mit ausgestreckter Hand: „eine Nane.“ Da half auch keine Ablenkung. Noch gab es sie.

Endlich: 1942/1943 hatte mein Vater Erfolg. Die Krupp-Gruson-Werke in Magdeburg boten ihm die Leitung einer Abteilung des Werkverkehrs an. So wechselten wir noch im gleichen Jahr nach Magdeburg in eine Wohnung im Hohenstaufenring, unmittelbar am Nordpark gelegen (heute: Otto-von-Guericke-Universität).

Meine Einschulung

Seit vier Jahren tobte nun schon wieder in Europa ein verheerender Krieg. In unserem Lebensbereich war zum Glück noch nichts von Kriegshandlungen zu spüren. Meine Eltern bemühten sich, mich von diesen noch entlegenen Geschehnissen fernzuhalten. Nur hin und wieder sah ich Gruppen von jungen Männern am Rand vom Nordpark sitzen und unter Aufsicht einer stupiden Beschäftigung nachgehen wie krumme Nägel wieder gerade klopfen. Es seien Kriegsgefangene, hieß es, was mir aber absolut nichts sagte.

Kurz vor Ostern 1943 fassten meine Eltern den Entschluss, mich zu Opa nach Bad Köstritz auf den Bauernhof zu schicken, natürlich in Begleitung der Mutsch. Landluft konnte ja nicht schaden und ordentlich zu essen gab es dort auch. Einige Wochen nach Ostern sollte mich die Mutsch wieder abholen.

Damals wurde zur Osterzeit eingeschult. Zusammen mit meinem Opa stand ich am Hoftor und sah auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine große Kinderschar vorbeiziehen, etwa in meinem Alter, und jedes Kind hielt eine sonderbare spitze Tüte im Arm.

„Opa, was haben die denn da drin?“ „Äpfel, Kekse, Bonbons, vielleicht sogar Schokolade“.

„Das ist ja toll. Eine solche Tüte möchte ich auch haben“.

Pragmatisch, wie ein bodenständiger Bauer nur sein kann, sagte er ruhig und logisch: „Dann musst du eben zur Schule gehen“.

„Na klar, dann gehe ich zur Schule“.

Nach kurzer Überlegung rief Opa über die Straße hinweg dem Lehrer zu: „Anton, hier hast du noch einen vergessen“.


Bild 1 – Manfreds Einschulung, Ostern 1943

Und auf diesem Weg wurde ich mit fünf Jahren in Bad Köstritz eingeschult. Einfach auf Zuruf, ohne Wissen meiner Eltern. Auf dem Dorf war das anscheinend kein Problem. Erst als meine Mutter mich wieder abholen wollte, fiel sie aus allen Wolken. Einmal eingeschult, gab es kein Zurück mehr. In Magdeburg musste ich weiter zur Schule gehen. Diese frühe Einschulung war schicksalhaft für mich. Hat sie doch mein ganzes weiteres Leben bestimmt, in ausnahmslos positivem Sinn.

An eine Episode in der Bad Köstritzer Schule kann ich mich noch gut erinnern. Wir lernten das ABC. Der Lehrer zeigte mit einem Stab auf einen Buchstaben und der aufgerufene Schüler musste ihn laut und deutlich aussprechen. Wer versagte, kam ins „faule Ei“, ein auf den Boden gemalter Kreis in der Zimmerecke. Nach nochmaliger Abfrage und richtiger Antwort war er wieder entlassen. Anderenfalls mussten zwei Zeilen der Schiefertafel als zusätzliche Hausarbeit mit dem ungenannten Buchstaben beschriftet werden. Dieses Malheur drohte mir stets bei dem Buchstaben Q (Ku). Unvorstellbar, dass ein so großes Tier auf derartige Weise dargestellt werden soll. Irgendwann später riss dann doch der Knoten.

Evakuierung

Kaum eingelebt in der neuen Schule, kam zum Jahresende 1944 die Order, Familien mit Kindern müssten aus Sicherheitsgründen in benachbarte Dörfer umziehen. Meine Mutter und wir beiden Kinder erhielten in Dahlenwarsleben im Obergeschoss eines bäuerlichen Anwesens zwei Zimmer, einen Wohnraum und einen Schlafraum. Die Entfernung betrug etwa elf Kilometer und konnte per Pferdewagen bewältigt werden. Bis heute blieb mir verborgen, warum neben den Betten ausgerechnet das Klavier mit umziehen musste. Mein Vater blieb in der Stadt zurück und besuchte uns gelegentlich am Wochenende.

Schon bald erreichte das Kriegsgeschehen auch unsere heimatliche Flur. Das bereits fünf Jahre währende Bombardement deutscher Städte und Dörfer im Zweiten Weltkrieg, meistens fernab von militärischen Anlagen und kriegswichtiger Industrie, ist ohne Entsprechung in der Geschichte. Wenn feindliche Bomberverbände anflogen, gab es Sirenenalarm. Dann galt es, sofort mit dem bereitstehenden Handgepäck in den zugeteilten Luftschutzraum zu eilen und die Entwarnung abzuwarten. Bis kurz vor unserer Evakuierung holten uns die Sirenen des Öfteren zweimal pro Nacht aus dem Schlaf.

Auch die sich noch immer abmühenden Schulen hatten gewöhnlich eigene Schutzbunker. Nur unsere Dorfschule in Dahlenwarsleben nicht. Sobald die Sirene losbrach, musste alles in Windeseile eingepackt und im Laufschritt der abseits liegende Schutzraum in unserem Wohnhaus erreicht werden. In meiner Erinnerung schaffte ich es zwischen fünf und zehn Minuten, je nach Wetter und immer noch vor dem Überflug der Bomberverbände. Von Bombenabwürfen blieben wir Gott sei Dank verschont. Nur einmal erreichten uns auf dem Heimweg einige Tiefflieger. Sofort warfen wir uns bäuchlings in den Straßengraben, den Schulranzen über den Kopf und hörten über uns Maschinengewehrfeuer. Es wurde niemand getroffen, obwohl es sicher ein Leichtes gewesen wäre. Vermutlich wollten die Piloten ihr Gewissen nicht mit Kindermorden belasten.

Der Feuersturm am 16. Januar 1945

Am Vormittag dieses denkwürdigen Tages attackierte die 8. US-Flotte die Krupp-Gruson-Werke und die Hydrieranlage Brabag. Am Abend jedoch, nach 21 Uhr, fielen sechs Teilverbände über die Wohngebiete der Stadt her und legten alles in Schutt und Asche. In dieser Nacht fanden viertausend unschuldige Menschen den Tod durch Splitter, Trümmer oder Phosphorbrand. Von Dahlenwarsleben aus konnten wir das brennende Magdeburg sehen. Eine rot leuchtende Feuerglocke überwölbte die Stadt.

Meine Mutter brach noch zu Fuß in dieser Nacht nach Magdeburg auf, um zu sehen, ob auch unsere Wohnung getroffen worden war und wie es um unseren Vater stand. Er hatte glücklicherweise außerhalb unseres Hauses überlebt. Das Haus selbst aber hatte einen Volltreffer erhalten und war total zerstört. Es gab nichts mehr zu retten. Heimgekehrt schilderte uns unsere Mutter dann das schier unvorstellbare Inferno. Auf den Straßen liefen Menschen schreiend vor Schmerzen umher. Phosphor hatte ihre Kleidung durchsetzt und verbrannte sie bei lebendigem Leib. Auch wenn sie sich in den noch teils zugefrorenen Teich im Nordpark stürzten, brachte ihnen das keine Erlösung. Der Phosphor brannte auch im Wasser weiter.

Bombardiert wurden mehr als tausend deutsche Städte und Ortschaften. Auf dreißig Millionen Zivilpersonen, überwiegend Alte, Frauen und Kinder, fielen nahezu eine Million Tonnen Sprengund Brandbomben. Mehr als eine halbe Million Todesopfer und der unwiederbringliche Verlust der seit dem Mittelalter gewachsenen deutschen Städtelandschaft waren zu beklagen (5).

Erst vier Jahr später schuf die UNO mit der Genfer Konvention einen völkerrechtlichen Schutz für Zivilpersonen in Kriegszeiten. Geschähe das heute, wäre diese Missetat ein Kriegsverbrechen, ein moralisches wird es wohl bleiben.

„Bringst du einen Menschen um, nennt man dich einen Killer und du kommst auf den elektrischen Stuhl, tötest du Millionen, wird dir ein Orden verliehen“ (unbekannter amerikanischer Verfasser).

Kriegsende und Besatzung

Eine normale Landstraße, von Nordost kommend, durchquert Dahlenwarsleben, öffnet sich in der Dorfmitte vor dem Rathaus und der Kirche zu einem Platz und führt dann weiter in Richtung Autobahn nach Magdeburg. Auf ihr war plötzlich ungewohnter Betrieb. Zurückflutende Wehrmachtsverbände strebten Richtung Magdeburg. Ein Befehlshaber verpflichtete den Bürgermeister dazu, eine Straßensperre bauen zu lassen, wohl um nachrückende alliierte Verbände aufzuhalten. Zwischen zwei eingeschossigen Einfachhäusern, die unmittelbar am Straßenrand standen, errichteten verfügbare Einsatzkräfte an jeder Seite einen massiven, mannshohen Steinsockel. Es verblieb ein etwa drei Meter breiter Zwischenraum, der mit einer herbeigeschafften Straßenwalze geschlossen wurde. Als nach Abzug der militärischen Verbände der Bürgermeister mit einigen Vertrauten wieder allein war, gelangte er zu der Einsicht, dass diese Sperre anrückende Panzer nur dazu einlud, sie zu umfahren, indem sie die am Rande stehenden, wackligen Hofgebäude einfach niederbrächen. Die Straßenwalze wurde zur Seite gefahren und die Passage wieder frei gegeben. Kurz darauf sah ich den Bürgermeister mit zwei Begleitern, in der Hand eine weiße Fahne, auf der Landstraße den sich nähernden Amerikanern entgegengehen. Nach einem kurzen Stopp und Entgegennahme der Berichterstattung des Bürgermeisters rückten die Amis in Dahlenwarsleben ein.

ВходРегистрация
Забыли пароль