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Jules Verne Die Eissphinx
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Was der Kapitän eben sagte, beruhte auf Wahrheit; in Uebereinstimmung mit allen Lesern des Romans hielt ich jene Erklärung nur für einen Kunstgriff, einen Tric des Dichters. Meiner Ansicht nach gab der Verfasser, der ein so hervorragendes Werk seiner Einbildungskraft nicht durch eine greifbare Lösung des Knotens schließen konnte und mochte, damit zu verstehen, daß der Inhalt der letzten drei Capitel nicht auf Ueberlieferung Arthur Pym's selbst fußte, welch' letzterer sein Leben unter überraschenden und beklagenswerthen Umständen, die er der Oeffentlichkeit vorenthielt, geschlossen hatte.
»Da Edgar Poe also, sprach der Kapitän weiter, abwesend und Arthur Pym schon todt war, hatte ich nur noch die eine Aufgabe, den Mann zu finden, der Arthurs Reisegefährte gewesen war, jenen Dirk Peters, der ihm bis zur letzten Eisbarre der höchsten Breiten folgte, von wo beide – wie, das weiß kein Mensch – zurückkehrten. Auch ob Arthur Pym und Dirk Peters den Rückweg zusammen gemacht hatten, verschwieg leider der Bericht, in dem sich auch an anderen Stellen manche unaufgeklärte Punkte finden. Jedenfalls wies Edgar Poe aber darauf hin, daß der in Illinois wohnende Dirk Peters in der Lage sein werde, einige Mittheilung über die nicht unmittelbar überlieferten Capitel zu machen. Ich reiste nun sofort nach Illinois, wo ich in Springfield eintraf. Hier unterrichtete ich mich über den Gesuchten, einen Mestizen von indianischer Abkunft, der sich in dem Flecken Vandalia aufhielt. Dahin begab ich mich...
– Ohne ihn zu finden? konnte ich mich nicht enthalten, lächelnd einzuschieben.
– Zweite Enttäuschung: Er war nicht da, Herr Jeorling, oder er war, richtiger, nicht mehr da. Schon seit einer Reihe von Jahren hatte dieser Dirk Peters Illinois, sogar die Vereinigten Staaten verlassen, um... keiner weiß wohin, zu gehen. In Vandalia hab' ich aber doch Leute gesprochen, die ihn gekannt haben, bei denen er zuletzt wohnte... denen er seine Abenteuer erzählt hatte, ohne sich über deren schließlichen Ausgang zu verbreiten, über jenes Geheimniß, dessen einziger Besitzer er ist!«
Wie... jener Dirk Peters hatte gelebt... lebte noch?.., Ich war nahe daran, mich von den so bestimmten Erklärungen des Befehlshabers der »Halbrane« gefangen nehmen zu lassen.... Ja, noch einen Augenblick, und es wäre auch mit mir nicht mehr ganz richtig gewesen.
Welch tolle Geschichten wohnten doch im Gehirn des Kapitän Len Guy und zu welch tiefer Stufe geistiger Verkommenheit war er schon herabgesunken!
Er lebte in der Einbildung, eine Reise nach Illinois gemacht und in Vandalia Leute gesehen zu haben, die Dirk Peters gekannt hatten! – D aß dieser Mann verschwunden war, glaub' ich gern, weil er nie anderswo als im Gehirn des Romandichters existiert hatte.
Ich wollte aber dem Kapitän Len Guy nicht entgegentreten, um keine Verschlimmerung der jetzigen Krise zu veranlassen.
So gab ich mir den Anschein, alles zu glauben, was er vorbrachte, selbst als er hinzufügte:
»Es wird Ihnen nicht entgangen sein, Herr Jeorling, daß in dem Bericht von einer Flasche die Rede ist, einer Flasche mit einem versiegelten Schreiben, die der Kapitän der Goëlette, auf der Arthur Pym sich befand, am Fuße einer Bergspitze der Kerguelen niedergelegt hatte?...
– Das wird in der That erwähnt, bestätigte ich.
– Nun bei einer meiner letzten Fahrten habe ich nach der Stelle gesucht, wo die Flasche sein sollte... ich habe sie da, ebenso wie den Brief gefunden... und dieser Brief meldete, daß der Kapitän und sein Passagier nichts unversucht lassen würden, um die äußersten Grenzen des Südpolarmeers zu erreichen.
– Wie... Sie haben jene Flasche gefunden?... fragte ich lebhaft.
– Ja!
– Und auch den Brief, den sie enthielt?...
– Ja, natürlich!«
Ich sah den Kapitän Len Guy an. Wie gewisse Monomanen oder partiell Verrückte glaubte er offenbar an seine eigenen Erfindungen, und ich wollte schon den Brief von ihm zur Einsicht erbitten... unterließ das jedoch, da er fähig gewesen wäre, selbst einen solchen aufzusetzen.
»Es ist wirklich zu bedauern, antwortete ich darauf, daß Sie Dirk Peters nicht mehr in Vandalia getroffen haben!... Er hätte Ihnen gewiß mitgetheilt, unter welchen Verhältnissen Arthur Pym und er aus so großer Ferne zurückgekehrt waren. Erinnern Sie sich... im vorletzten Capitel... da sind Beide noch da. Ihr Boot schwankt vor einer dichten weißen Nebelwand... es taumelt in den Schlund eines Katarakts gerade in dem Augenblick hinab, wo eine verschleierte Menschengestalt vor ihm auftaucht... dann folgt nichts weiter... nur zwei Linien mit Gedankenstrichen...
– Ja gewiß, Herr Jeorling, ich beklage es auch, des Dirk Peters nicht haben habhaft werden zu können! Es wäre doch von so hohem Interesse gewesen, den Ausgang jener Abenteuer zu erfahren. Meiner Ansicht nach noch interessanter wär' es aber gewesen, etwas von dem Schicksal der Andern zu hören.
– Der Andern?... rief ich unwillkürlich. Von wem sprechen Sie da?
– Von dem Kapitän und der Mannschaft der englischen Goëlette, die Arthur Pym und Dirk Peters nach dem schrecklichen Schiffbruche des »Grampus« aufgenommen hatte und sie nachher durch das Polarmeer bis zur Insel Tsalal beförderte.
– Herr Len Guy, bemerkte ich, immer scheinbar überzeugt von der Wahrheit des Edgar Poe'schen Romans, waren denn diese Leute, die einen bei dem Ueberfall der Goëlette, die andern bei dem künstlichen, durch die Bewohner von Tsalal herbeigeführten Einsturz, nicht alle ums Leben gekommen?
– Wer weiß das, Herr Jeorling, erwiderte der Kapitän Len Guy mit einer von innerer Erregung verschleierten Stimme; wer weiß, ob nicht einige der Unglücklichen ebenso das Gemetzel wie den Einsturz überlebt haben, ob nicht einige oder mehrere den Eingebornen entkommen sind?...
– Jedenfalls, warf ich ein, darf man kaum annehmen, daß die damit vielleicht Geretteten jetzt noch am Leben wären....
– Und warum nicht?
– Weil die Vorfälle, wovon wir sprechen, sich schon vor elf Jahren ereigneten.
– Mein Herr Jeorling, entgegnete der Kapitän Len Guy, wenn es Arthur Pym und Dirk Peters gelang, jenseits der Insel Tsalal bis über den vierundachtzigsten Breitengrad vorzudringen, wenn sie Mittel und Wege gefunden hatten, inmitten der antarktischen Gebiete ihr Leben zu fristen, warum sollten ihre Begleiter, soweit sie den Aexten der Eingebornen entgingen und so glücklich waren, auf der Fahrt schon entdeckte, benachbarte Inseln zu erreichen... warum sollte es diesen Unglücklichen, meinen Landsleuten, nicht auch gelungen sein, dort weiter zu leben?... Warum sollten nicht einige davon noch heute auf ihre Erlösung harren?
– Ihre Antheilnahme verführt Sie, Herr Kapitän, antwortete ich als Versuch, ihn zu beruhigen. Jedenfalls wäre es unmöglich...
– Unmöglich, Herr! fuhr er auf. Wenn nun eine Thatsache vorläge, wenn ein nicht anzuzweifelndes Zeugniß die Welt zum Rettungswerke mahnte wenn man einen handgreiflichen Beweis von der Existenz der Unglücklichen, an den Grenzen des Erdballs Verlassenen entdeckte, wem, der ihnen zu Hilfe zu eilen wagte, würde man ein »Unmöglich!« entgegenschleudern?«
Hier wurde mir eine Antwort erspart, die der Kapitän doch nicht gehört hätte, denn er wendete sich mit leisem Seufzen nach Süden zu, als wollte er den fernen Horizont mit dem Blicke durchdringen.
Ich fragte mich nur, welche Erlebnisse bei dem Kapitän Len Guy wohl die jetzige Geistesverwirrung verschuldet haben möchten. War es nur ein bis zum Wahnsinn gesteigertes Gefühl allgemeiner Menschenliebe, daß er sich für die Schiffbrüchigen, die niemals Schiffbruch erlitten, weil sie überhaupt niemals existiert hatten, so warm interessierte?
Da trat der Kapitän Len Guy näher an mich heran, legte die Hand auf meine Schulter und flüsterte mir ins Ohr:
»Nein, Herr Jeorling, nein! Das letzte Wort über das, was die Mannschaft der »Jane« angeht, ist noch nicht gesprochen!«
Hiermit ließ er mich stehen.
Die »Jane«, das war im Roman der Name der Goëlette, die Arthur Pym und Dirk Peters von den treibenden Trümmern des »Grampus« aufgefischt hatte, und jetzt zum ersten Male hatte der Kapitän Len Guy am Schlusse unseres Gesprächs diesen Namen genannt.
»Aha, dachte ich da, Guy, so lautete auch der Name des Kapitäns der »Jane«, eines Schiffes englischer Nationalität, gleich dem seinen. Doch was beweist das und welche Schlüsse ließen sich daraus ableiten? Der Kapitän der »Jane« hat ja nie anders gelebt, als in der Phantasie Edgar Poe's, während der Kapitän der »Halbrane« wirklich und leibhaftig existiert. Beide haben mit einander nichts gemein als den Namen Guy, der in Großbritannien übrigens sehr verbreitet ist. Und doch, es wird ohne Zweifel so sein, die Uebereinstimmung der Namen wird das Gehirn unseres unglücklichen Kapitäns angegriffen haben, der sich einbildet, zur Familie des Befehlshabers der »Jane« zu gehören!... Ja, ja, das hat ihn dahin gebracht, wo er jetzt ist, und deshalb bewahrt er den nur erdichteten Schiffbrüchigen eine so weitgehende Theilnahme.
Es wäre interessant gewesen, zu wissen, ob Jem West hierüber auch unterrichtet war, ob sein Vorgesetzter ihn jemals von den »Thorheiten« unterhalten hatte, die er eben gegen mich offenbarte. Das war aber eine heikle Frage, da sie den geistigen Zustand des Kapitän Len Guy betraf. Ueberdies hatte jede Unterhaltung mit dem Lieutenant Schwierigkeiten und in diesem Falle sogar gewisse Gefahren....
Ich schlug mir das also aus dem Sinn, da ich ja ohnedies in Tristan d'Acunha ans Land gehen und mein Aufenthalt an Bord schon in einigen Tagen zu Ende sein sollte. In Wahrheit hätte ich es mir aber nie träumen lassen, jemals mit einem Manne zusammenzutreffen, der die Phantasiegebilde Edgar Poe's für baare Münze nehmen würde.
Am zweitnächsten Tage, dem 22. August, erkannten wir schon vom ersten Tagesgrauen an, nachdem wir die Insel Marion und ihren Vulcan, dessen Südspitze sich bis viertausend Fuß über das Meer erhebt, an Backbord hinter uns gelassen hatten, die ersten Linien der Prinz Eduard-Insel unter 46 Grad 55 Minuten südlicher Breite und 37 Grad 46 Minuten östlicher Länge. Diese Insel blieb uns an Steuerbord und zwölf Stunden später verschwammen ihre letzten Höhen wieder im Nebeldunst des Abends.
Am nächsten Tage schlug die »Halbrane« einen Curs nach Nordwesten und nach dem nördlichsten Parallelkreise der südlichen Halbkugel ein, den sie im Laufe dieser Fahrt berühren sollte.
Fünftes Capitel
Der Roman von Edgar Poe
Wir geben hier auszugsweise den Inhalt des berühmten Werkes unseres amerikanischen Romandichters wieder, das unter dem Titel.
Die Abenteuer Arthur Gordon Pym's in Richmond erschienen war. Ich kann es nicht umgehen, ihn in diesem Capitel kurz zusammenzufassen, da der Leser daraus ersehen wird, ob man überhaupt daran zweifeln konnte, daß die Abenteuer dieses Romanhelden erdichtet seien. Unter den zahlreichen Lesern des genannten Werks dürfte es – abgesehen vom Kapitän Guy – wohl keinen gegeben haben, der seinen Inhalt für wahr gehalten hätte.
Edgar Poe hat den betreffenden Bericht seiner Hauptperson in den Mund gelegt. Schon in der Vorrede erzählt Arthur Pym, daß er bei der Heimkehr aus den antarktischen Meeren unter den Gentlemen Virginiens, die sich für geographische Entdeckungen interessierten, Edgar Poe getroffen habe, der damals Herausgeber des Southern Literary Messenger in Richmond war. Seiner Darstellung nach, hätte Edgar Poe von ihm die Erlaubniß erhalten, in diesem Blatte, doch »unter dem Deckmantel freier Erfindung« den ersten Theil seiner Reise zu veröffentlichen. Bei der günstigen Aufnahme, die diese Mittheilungen allerorts fanden, folgte ihnen ein richtiger Band, der die gesammte Reise umfaßte, und unter dem Namen Edgar Poe's herauskam.
Wie aus meinem Gespräche mit Kapitän Len Guy schon hervorging, stammte Arthur Gordon Pym aus Nantucket, wo er bis zum Alter von sechzehn Jahren die Schule von New-Bedford besuchte.
Nach Vertauschung dieser Schule mit der Akademie von M. E. Ronald schloß er Freundschaft mit dem um zwei Jahre älteren Sohne eines Kauffahrerkapitäns, August Barnard. Dieser junge Mann hatte seinen Vater schon einmal auf einem Walfänger nach den südlichen Meeren begleitet und entzündete die Phantasie Arthur Pym's mächtig durch die Erzählungen von seiner Seefahrt.
Der vertraute Verkehr der beiden jungen Leute erweckte offenbar Arthur Pym's unwiderstehliches Verlangen nach abenteuerlichen Reisen und die unbewußte Neigung, die ihn vor allem nach den hohen Breiten des südlichen Eismeers lockte.
Der erste unbesonnene Streich August Barnard's und Arthur Pym's war der Ausflug auf einer kleinen Schaluppe, dem »Ariel«, einem halb gedeckten Boote, das der Familie des ersteren gehörte. Eines Abends bei ziemlich kaltem Octoberwetter schifften sich beide, etwas angetrunken, heimlich ein, hißten das Fock- und das Großsegel und fuhren bei frischem Südwestwinde aufs Geradewohl aufs Meer hinaus.
Nachdem der »Ariel«, vom Ebbestrom unterstützt, schon außer Sicht des Landes gekommen war, erhob sich ein heftiger Sturm. Die beiden Tollkühnen waren noch immer ein wenig berauscht. Keiner stand am Steuer, kein Segel war gereest. Bei den wüthenden Windstößen wurden die Segel des Bootes weggerissen. Bald darauf tauchte ein großes Schiff auf, das den »Ariel« überfuhr, wie dieser eine treibende Flaumfeder überfahren hätte.
Bezüglich dieses Zusammenstoßes erzählt Arthur Pym die genauesten Einzelheiten der Rettung seines Genossen und seiner selbst, die übrigens nur unter großen Schwierigkeiten bewerkstelligt wurde. Kurz, Dank dem zweiten Officier vom »Pinguin« aus Neu-London, der auf dem Platze der Katastrophe eintraf, wurden die beiden Kameraden, dem Tode nahe, gerettet und nach Nantucket zurückbefördert.
Der Behauptung, daß dieses Abenteuer wirklich den Stempel der Wahrheit trägt, ja, daß es sich wirklich so zugetragen habe, widerspreche ich nicht. Es bildete eine geschickte Vorbereitung auf die folgenden Capitel. Ebenso könnte der Bericht in diesen und bis zu dem Tage, wo Arthur Pym den Polarkreis überschreitet, ohne Zwang für wahr gehalten werden. Hier spielt sich eine Reihe von Thatsachen ab, die mit der Wahrscheinlichkeit noch recht wohl übereinstimmen. Doch... jenseit des Polarkreises, jenseit des südlichen Packeises, da liegen die Dinge anders, und wenn der Verfasser hier nicht eine Frucht reiner Erdichtung geliefert hat, dann will ich gleich... doch fahren wir fort.
Jenes erste Abenteuer hatte die beiden jungen Leute nun keineswegs abgekühlt. Arthur Pym begeisterte sich mehr und mehr für die Seegeschichten, die ihm August Barnard erzählte, obgleich er herausfühlte, daß hier manche Uebertreibung unterlaufen mochte.
Acht Monate nach dem Vorkommniß mit dem »Ariel« – im Juni 1827 – wurde die Brigg »Grampus« durch die Firma Lloyd und Vredenburg für den Walfischfang in den südlichen Meeren ausgerüstet. Es war das nur ein alter, nothdürftig ausgebesserter Kasten, dessen Führung Herr Barnard, Augusts Vater, übernahm. Sein Sohn, der ihn begleiten sollte, redete Arthur Pym eindringlich zu, ihnen auf dieser Fahrt zu folgen. Dieser wünschte ja gar nichts anderes, seine Familie aber, vorzüglich seine Mutter, wären nie zu bestimmen gewesen, ihre Erlaubniß dazu zu ertheilen.
Das war aber kein hindernder Grund für einen unternehmenden jungen Burschen mit so wenig Neigung, sich dem väterlichen Willen zu fügen. August setzte ihm gar zu drängend zu. So beschloß er, sich auf dem »Grampus« heimlich einzuschiffen, denn Herr Barnard würde eine Mißachtung der elterlichen Entscheidung nie gebilligt haben. Unter dem Vorwande der Einladung eines Freundes, ein paar Tage in New-Bedford zu verweilen, nahm er von seinen Eltern Abschied und machte sich auf den Weg. Achtundvierzig Stunden vor der Abfahrt der Brigg sich an Bord einschleichend, versteckte er sich hier in einem Winkel, den August ihm ohne Wissen seines Vaters und der ganzen Mannschaft einigermaßen hergerichtet hatte.
Die Cabine August Barnard's stand mittelst einer Fallthür in Verbindung mit dem Laderaume des »Grampus«, den Fässer, Ballen und tausenderlei Frachtstücke anfüllten. Durch diese Fallthür war auch Arthur Pym nach seinem Verstecke gelangt, einer großen leeren Kiste, deren eine Wand sich seitlich verschieben ließ. Diese Kiste enthielt eine Matratze, Decken, einen Wasserkrug und an Nahrungsmitteln Schiffszwieback, Würstchen, eine gebratene Hammelkeule, einige Flaschen Liqueur und selbst etwas Schreibmaterial. Mit Laterne und einigem Vorrath an Kerzen und Streichhölzchen versorgt, blieb Arthur Pym drei Tage und drei Nächte in seinem Versteck. August konnte ihn erst einmal aufsuchen, als der »Grampus« in See gegangen war.
Bald begann nun Arthur Pym das Rollen und Stampfen der Brigg zu fühlen. Da ihm der Aufenthalt in dem engen Kasten unbehaglich wurde, verließ er ihn und tastete sich in der Finsterniß an einem ausgespannten Stricke durch den Laderaum hin und her. Nachdem er so die Glieder etwas in Bewegung gebracht hatte, kehrte er nach seinem Kasten zurück, aß ein wenig und schlief sorglos ein.
Mehrere Tage vergingen, ohne daß August Barnard bei ihm erschien. Entweder hatte er in den Raum überhaupt nicht hinabsteigen können oder das nicht gewagt, aus Furcht, die Anwesenheit Arthur Pym's zu verrathen, wo er die Zeit, seinem Vater alles zu beichten, noch nicht gekommen glaubte.
Arthur Pym fing in der feuchtwarmen, verdorbenen Luft allmählich an zu leiden. Es wurde ihm immer schwerer im Kopfe und seine Sinne verwirrten sich. Vergebens sachte er, sich durch die Frachtstücke drängend, nach einer Stelle, wo er hätte etwas freier athmen können. Von einer Sinnestäuschung befangen, glaubte er sich einmal unter den Tatzen eines Tropenlöwen zu sehen, und im höchsten Entsetzen hätte er sich fast durch sein Schreien verrathen, da verlor er aber zum Glück das Bewußtsein.
In der That träumte er nicht gänzlich. Ein Löwe war es zwar nicht, dessen Krallen Arthur Pym auf seiner Brust fühlte, wohl aber ein kleiner, weißhaariger Hund, Tigre, sein eigener junger Neufundländer, den August Barnard, von niemand bemerkt, an Bord einzuschmuggeln gewußt hatte. Jetzt leckte das treue Thier nach Wiederauffindung seines Herrn dessen Gesicht und Hände und gab seiner Freude den unverhehltesten Ausdruck.
Der Gefangene hatte nun wenigstens einen Gesellschafter. Leider hatte dieser während seiner Bewußtlosigkeit den ganzen Wasserkrug geleert, und als Arthur Pym dann seinen Durst löschen wollte, enthielt der Krug keinen Tropfen mehr. Da auch die Laterne erloschen war – seine Bewußtlosigkeit hatte mehrere Tage angehalten – und er weder Streichhölzchen noch Kerzen finden konnte, beschloß er, sich mit August Barnard in Verbindung zu setzen. Sein Versteck verlassend, leitete ihn der Strick, trotz seiner äußersten Schwäche infolge Luftmangels und Hungers, fast bis nach der Fallthür. Auf dem Wege dahin fiel aber eine große, durch das Rollen des Schiffs aus dem Gleichgewicht gebrachte Kiste herunter und versperrte ihm den Durchgang. Mit größter Anstrengung gelang es ihm zwar, dieses Hinderniß zu beseitigen, doch leider ganz vergebens, denn bis zur Fallthür unter der Cabine August Barnard's gelangt, vermochte er diese nicht aufzuschlagen. Mittelst seines Messers, das er durch einen Sprung ins Holz steckte, überzeugte er sich, daß eine schwere Eisenmasse auf der Fallthür lag so als habe man ihn zum Tode verdammen wollen. Er mußte seine Absicht also aufgeben und, sich nur mit Mühe hinschleppend, seinen Kasten wieder aufsuchen, wo er erschöpft zusammenbrach, während Tigre ihn mit seinen Liebkosungen bedeckte.
Herr und Hund starben schon beinahe vor Durst, und als Arthur Pym einmal die Hand ausstreckte, fühlte er, daß Tigre mit emporgestreckten Pfoten und etwas gesträubtem Fell auf dem Rücken lag Beim Betasten des Hundes bemerkte er aber auch einen um dessen Körper geschlungenen Faden mit einem Stück Papier, das unter der linken Schulter des Thieres befestigt war.
Arthur Pym befand sich im höchsten Grade der Erschöpfung. Sein geistiges Leben war schon fast abgestorben. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen, sich Licht zu verschaffen, gelang es ihm wenigstens, das Papier mit dem Phosphor eines Zündhölzchens zu bestreichen, und da erschienen – in Edgar Poe's Bericht finden sich hierüber die packendsten Einzelheiten – folgende erschreckende Worte... die letzten sieben Wörter eines Satzes, den ein fahler Schein eine Viertelsecunde lang beleuchtete:
... Blut... bleibe versteckt... es gilt Dein Leben...
Nun denke man sich die Lage Arthur Pym's im Grunde des Schiffsraumes, ohne Licht, ohne Wasser, zwischen den Holzwänden seines Kastens, nur brennenden Likör in der Hand, seinen Durst zu betäuben. Und dazu die ernste Mahnung, versteckt zu bleiben, eingeleitet mit dem Worte »Blut«, diesem hochbedeutsamen Worte, dem Könige der Wörter, das so überreich an Geheimnissen, an Leiden und Schrecken ist. Tobte denn ein Kampf an Bord des »Grampus«?... War die Goulette von Seeräubern überfallen worden?... Handelte es sich um eine Meuterei der Mannschaft?... Wie lange währte schon dieser Zustand der Dinge?...
Man könnte glauben, daß der fruchtbare Dichter mit der Entsetzlichkeit dieser Lage die Quellen seiner Erfindungsgabe erschöpft habe. Das trifft aber nicht zu. Seine überschäumende Genialität reißt ihn noch weiter fort.
Arthur Pym, jetzt von einer Art Lethargie befallen, vernimmt, während er auf der Matratze ausgestreckt liegt, ein seltsames Pfeifen, empfindet einen ununterbrochenen Lufthauch. Das kam von dem schwer keuchenden Tigre, von dem Hunde, dessen Augen mitten in der Finsterniß unheimlich funkeln... von Tigre, der mit den Zähnen knirscht... der von der Tollwuth ergriffen ist....
Im höchsten Entsetzen gewann Arthur Pym genug Kraft, den Bissen des Hundes, der sich auf ihn gestürzt hatte, zu entgehen. Nachdem er sich in eine dicke Decke gehüllt hatte, die die weißen Spitzzähne des wüthenden Thieres zerrissen, stürzte er aus dem Kasten und warf dessen Thür vor Tigre zu, der nun gegen die Wände tobte.
Arthur Pym gelang es, sich durch die verstauten Frachtstücke hindurchzuwinden. Der Kopf drehte sich ihm aber und er fiel gegen einen Koffer, wobei ihm auch noch das Messer aus der Hand glitt.
Da, als er eben den letzten Seufzer auszuhauchen fürchtete, hörte er seinen Namen aussprechen. Eine an seinen Mund geführte Wasserflasche entleerte sich zwischen seinen Lippen... er lebte wieder auf, nachdem er – o welche Wollust! – gierig getrunken und tief und lang aufgeathmet hatte.
Wenige Augenblicke darauf berichtete August Barnard seinem Kameraden, in einer Ecke des Raumes und bei dem trüben Schein einer Laterne, über alles, was sich seit der Abfahrt an Bord der Brigg zugetragen hatte.
Bis hierher, wiederhole ich, ist diese Geschichte glaublich; wir sind aber noch nicht bei den Ereignissen, die »jeder Wahrscheinlichkeit spotten«.
Die Besatzung des »Grampus« belief sich, den ältern und jüngern Barnard eingerechnet, auf sechsunddreißig Köpfe. Nachdem die Brigg am 20. Juni unter Segel gegangen war, hatte August Barnard verschiedene, freilich vergebliche Versuche gemacht, Arthur Pym in seinem Versteck aufzusuchen. Drei oder vier Tage später kam es an Bord zu einer Meuterei. Der Rädelsführer dabei war der Oberkoch, ein Neger wie unser Endicott von der »Halbrane«, der, das sei sogleich hinzugefügt, nicht im geringsten der Mann dazu war, sich aufzulehnen.
Im Romane werden nun zahlreiche Vorfälle geschildert; Metzeleien, die den meisten, dem Kapitän treu gebliebenen Leuten das Leben kosteten, dann, im Gewässer der Bermudasinseln, die Aussetzung genannten Kapitäns und vier seiner Leute in einem kleinen Walfangboote, von dem man niemals wieder etwas hören sollte.
August Barnard wäre ohne das Dazwischentreten des Tauwerkmaats des »Grampus« auch nicht geschont worden. Ihn rettete Dirk Peters, ein Mestize vom Stamme der Upsarokas, der Sohn eines Pelzhändlers und einer jungen Indianerin, aus den Schwarzen Bergen – dieselbe, die der Kapitän Len Guy in Illinois wiedergefunden zu haben behauptete.
Der »Grampus« steuerte nach jener Katastrophe in südwestlicher Richtung und zwar unter Führung des zweiten Officiers, der in den südlichen Gewässern Seeräuberei zu treiben gedachte.
August Barnard hätte nach jenen Vorfällen Arthur Pym gern baldigst aufgesucht; man hatte ihm aber Hände und Füße gefesselt, ihn in das Volkslogis eingeschlossen, und der Schiffskoch erklärte ihm dazu, daß er nicht eher herauskommen werde, als bis »die Brigg keine Brigg mehr« wäre. Wenige Tage später gelang es August Barnard aber, seine Fesseln abzustreifen und den dünnen Holzboden, der ihn vom Schiffsraum trennte, zu durchbrechen. Tigre lief ihm dabei nach, und er versuchte, bis zum Schlupfwinkel seines Kameraden vorzudringen. Wenn ihm das auch nicht gelang, so hatte doch der Hund Arthur Pym »gewittert« und dadurch verfiel August Barnard auf den Gedanken, am Halse Tigres ein Billet zu befestigen, das die Worte enthielt: »Ich schreibe diese Worte mit Blut... bleibe versteckt... es gilt Dein Leben.«





