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Michael E. Harrer Hypnose und Achtsamkeit in der Psychoonkologie
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Die Hand hebt sich ganz allmählich und ruckartig, wie durch ein Zahnrad angetrieben, einige Zentimeter nach oben und schwebt nun über dem Stoff der Hose.
»Solange Ihre rechte Hand mir zeigt, dass Sie innerlich gut unterwegs sind, werde ich nur noch wenige Vorschläge machen. Genießen Sie es.«
Um der Patientin zu signalisieren, dass ich weiter für sie und mit ihr da bin und um sie meiner Präsenz zu versichern, kommentiere ich etwa zehn Minuten lang nur ab und zu etwas, etwa einen tiefen Atemzug, mit »sehr gut« und verbinde das Geschehen mit Vertiefungssuggestionen. Aufgrund der anhaltenden Handlevitation – die Hand hebt sich allmählich immer weiter –, gehe ich davon aus, dass sie in einer optimalen Szenerie gelandet ist, auch wenn ich nicht weiß, in welcher.
Als ihre Hand beginnt, allmählich wieder zahnradartig abzusinken, fordere ich Frau S. auf, sich genügend Zeit zu nehmen für die Rückkehr ihrer Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt. Ich schlage vor, von dieser aktuellen, intensiven und guten Erfahrung all das zu erinnern, was wert ist, erinnert zu werden. Zugleich könne sie all das erst mal einem inneren »Archiv des Vergessens« überlassen, was dort besser aufgehoben ist, um sich ganz auf die Herausforderungen der kommenden Chemotherapie konzentrieren zu können. Nach einer kurzen angesagten Pause leite ich in normaler Stimmlage die Reorientierung ein:
»Und nun zählen Sie bitte selbst innerlich rückwärts von zehn bis null, ohne die Zahlen auszusprechen. Über neun, acht, sieben und so weiter … bis Sie … bei den mittleren Zahlen angekommen … bemerken, wie Sie sitzen … dass z. B. der Kopf ein wenig zur Seite geneigt ist und Sie ihn leicht bewegen können, um wieder ganz aufrecht zu sitzen … und spätestens bei den kleinen Zahlen atmen Sie mal tief durch … genau so … um sich dann zu recken und zu strecken wie nach einem erholsamen Schlaf … um bei eins die Augen zu öffnen und bei null wieder ganz da zu sein.«
Nachdem Frau S. ihre Augen geöffnet hat und mich anblickt, begrüße ich sie mit einem freundlichen Lächeln. Dann besprechen wir ausführlich ihre Erfahrungen in der Hypnose. Es habe sich angefühlt wie eine aktuelle, sehr lebendige Hier-und-Jetzt-Erfahrung. Sie berichtet, sie habe intensiv die Anstrengung und die Kraft erlebt, die sie von früheren sportlichen Aktivitäten, vom Laufen und vom Schwimmen, kenne. Anschließend habe sie sich – total erschöpft – ausgeruht.
Nach all dem, was die Patientin durchmachen musste, wobei sie ihre Kräfte verausgabt hatte, kann sie ihre nachvollziehbare, bis dahin als negativ empfundene Erschöpfung auf eine ganz selbstverständliche und natürliche Weise umdeuten, als positiv erlebten Ausgangspunkt, als Beginn von Erholung und Wiederauftanken. Dieses Erleben wird zu einem Wendepunkt und leitet einen Perspektivenwechsel ein: weg von der Vermeidung der unerträglichen Nebenwirkungen der Chemotherapie, hin zu ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten, sich stattdessen auf eine positive Imagination zu konzentrieren.
Ausgehend von dieser Hypnoseerfahrung entwickelt Frau S. ihr maßgeschneidertes, persönliches Selbsthypnoseritual: Während der Chemotherapie-Infusionen konzentriert sie sich auf die Vorstellung und das damit verbundene Erleben, dass sie »mit aller Kraft flussaufwärts schwimmt«. Ihr Einfall, diese Vorstellung zu nutzen, ist insofern genial, als »die starke Strömung, die körperabwärts vom Scheitel bis zu den Zehen deutlich zu spüren ist, das gleichzeitige Aufsteigen von Übelkeit oder gar Erbrechen unmöglich macht«. In ihrer Vorstellung sinkt sie am Ende dieser Anstrengung, »endlich am Ufer, an einem warmen Sandstrand angekommen, vor Erschöpfung in einen tiefen und erholsamen Schlaf«.
Zusätzlich unterstützend wirkt sich vermutlich aus, dass die Chemotherapie ambulant in der Praxis eines niedergelassenen Onkologen verabreicht wird. Das erspart ihr den erneuten Kontakt mit der Klinik, mit der die monatelangen Ängste, der Schrecken der Diagnose und die operativen Maßnahmen assoziiert sind.
Frau S. verträgt mithilfe dieser und ähnlicher Imaginationen den zweiten Zyklus der Chemotherapie wesentlich besser als den ersten. Dass sie den dritten Zyklus noch viel besser verträgt als den zweiten, erlebt sie als persönlichen Erfolg. Sie verbucht ihn als besonders groß, da sie die gleiche Medikation gegen die Übelkeit erhalten hat und ihre Erfahrungen der im Rahmen der Aufklärung gehörten Information widersprechen, die Nebenwirkungen würden mit jedem Zyklus zunehmen. Aus hypnotherapeutischer Sicht gelten derartige Informationen als potenzielle Negativsuggestionen (Nocebo, Abschn. 5.6.3).
Frau S. erringt diesen persönlichen Sieg mithilfe einer Bewältigungsstrategie, die auf ihren ureigenen Fähigkeiten beruht. Zugang zu diesen Fähigkeiten findet sie mit professioneller psychoonkologischer Unterstützung und angeleitet in Hypnose. Deren Umsetzung und Anwendung erfolgt dann autonom mittels Selbsthypnose.
Zum weiteren Verlauf: Auf die psychoonkologische Krisenintervention zu Beginn und auf die dargestellte Unterstützung bei der Bewältigung der Herausforderungen der Chemotherapie mit Hypnose und Selbsthypnose folgt noch eine weitere Phase der Begleitung. Im Zeitraum von etwa einem Jahr bearbeitet Frau S. in einer psychotherapeutischen Zusammenarbeit im eigentlichen Sinne verschiedene Therapieziele und Themen.
Diese Schilderung des hypnotherapeutischen Vorgehens am Beispiel von Frau S. erfolgt aus der Perspektive des mitbehandelnden ärztlichen Psychotherapeuten (HE), der sie psychoonkologisch »ein Stück ihres Weges« begleitet. Im Zentrum dieser Begleitung stand die von beiden anerkannte Notwendigkeit der medizinisch indizierten Krebstherapie.
Im persönlichen intersubjektiven Austausch zweier Menschen in den Rollen von Arzt und Patientin blieb es während der Behandlung über weite Strecken hin offen, wie »die Geschichte« langfristig ausgehen wird – insbesondere in der dramatischen Krisensituation, dem Anlass zur ersten Begegnung. Erst im Rückblick konnten bestimmte Entwicklungen erkannt, benannt und gemeinsam reflektiert werden.
Die über viele Jahre gesammelten Erfahrungswerte sowie eine prinzipielle Zuversicht des Therapeuten (HE) im Hinblick auf die Fähigkeiten und Möglichkeiten von Menschen in extremen Belastungssituationen waren für beide Seiten hilfreich, auch wenn sie ein gutes Ergebnis keineswegs garantieren. Für Frau S. war die Weichenstellung wichtig, dass im Behandlungssystem einer Universitätsklinik endlich – nach Monaten – psychoonkologische Kompetenz hinzugeholt wurde. Vermutlich hätte Frau S. die ambulante Chemotherapie auch ohne psychotherapeutische Unterstützung »irgendwie« überstanden. Es bestand allerdings das Risiko einer schlechteren Prognose für den Fall, dass sie die Therapie nach dem ersten oder zweiten Zyklus wegen der – trotz entsprechender Medikation – unerträglichen Nebenwirkungen abgebrochen hätte.
Die Beziehung des Psychoonkologen zum überweisenden verantwortlichen Onkologen war kollegial und anerkennend, insbesondere nachdem sich die Verträglichkeit der Chemotherapie auf beeindruckende Weise verbesserte. Die in diesem Fall gelungene und höchst wünschenswerte wechselseitige – die Patientin einschließende – positive Verstärkung und Unterstützung ist allerdings eher nicht die Regel.
Jahre später besuchte Frau S. mich zu einem Nachgespräch, um das ich sie gebeten hatte. Dabei hob sie drei Punkte hervor, die für Sie damals besonders hilfreich waren: die erstaunliche Intensität der positiven Erfahrungen in Hypnose und Selbsthypnose, die Unterstützung beim Verstehen und Einschätzen der Bedeutung von Befunden und Aussagen der Ärzte und die Klärung wichtiger Themen und Konflikte bei ihrer Rückkehr in eine »neue Normalität«.
Die Geschichte der Begleitung von Frau S. verdeutlicht einige für uns wesentliche Punkte:
•Sie zeigt, dass eine psychoonkologische Begleitung die Durchführung von medizinischen Maßnahmen unterstützen oder gar erst ermöglichen kann. Sie gibt auch Einblicke, welche Rolle dabei ein hypnotherapeutisches Vorgehen in unterschiedlichen Settings spielen kann: im Rahmen einer Krisenintervention, in der Begleitung bei der Bewältigung der Krankheit und der Therapie, aber auch in einem psychotherapeutischen Setting im eigentlichen Sinne. Dabei ist vorauszusetzen, dass das Therapiekonzept dem aktuellen Stand des onkologischen Wissens entspricht, dass es erforderlich und sinnvoll ist und dass der Patient dem Vorgehen zustimmen kann.
•Zum anderen veranschaulicht das Beispiel, wie mit einem hypnotherapeutischen Vorgehen ein den Patienten zunächst nicht bewusstes individuelles Potenzial erschlossen und therapeutisch wirksam wird. Indem die Betroffenen mit ihrem höchst subjektiven Erleben, ihren ureigenen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Ressourcen mit einbezogen werden, wird jedes Behandlungskonzept wesentlich ergänzt und bereichert. Es öffnen sich Möglichkeitsräume, die dazu beitragen, aus einem objektiv angemessenen auch ein subjektiv zufriedenstellendes Gesamttherapiekonzept zu machen.
•Persönliche Hindernisse und Schwierigkeiten von Betroffenen zu bekämpfen führt oft in Sackgassen bis hin zum Abbruch der Therapie. Werden diese Hürden stattdessen als Herausforderungen angenommen und ernst genommen, lassen sich in der Regel gemeinsam Möglichkeiten finden und individuelle Lösungswege entwickeln. Ein derartiges Vorgehen führt immer weiter, als wenn die Bedürfnisse der Betroffenen übergangen, ihnen etwas aufgezwungen wird oder ihre Erfahrungen nicht angemessen berücksichtigt werden. In der Onkologie werden wir immer wieder an Grenzen stoßen: an die individuellen Grenzen der Patienten, die Grenzen der Behandler, die Grenzen der Medizin und an jene existenziellen Grenzen, die das Leben setzt. Es lohnt sich immer, gemeinsam zu erkunden, wo genau diese verlaufen.
3Arzt, Patient und Krankheit – eine Dreiecksbeziehung
Der Titel des Klassikers von Michael Balint (1957/2019), Der Arzt, sein Patient und die Krankheit, beschreibt die in der Krankenbehandlung entstehende Dreiecksbeziehung. In der Onkologie wird die Behandlung heutzutage allerdings nicht mehr von einem einzelnen Arzt geleistet, sondern von einem multiprofessionellen Team von Behandlern, das sich im Idealfall gut vernetzt. Jeder Patient ist einzigartig und nur vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte und seiner aktuellen soziokulturellen Einbettung zu verstehen. Meist hat auch er ein »Team« von Angehörigen, Bekannten, Selbsthilfegruppen, komplementären Mitbehandlern etc. um sich.
3.1Krebs: Fakten, Mythen und Metaphern
Unter Krebs wird eine Vielfalt höchst unterschiedlicher onkologischer Erkrankungen verstanden. So ist auch jeder Krebs auf seine Weise einzigartig – in seinen genetischen Charakteristika und Biomarkern, in seiner Lokalisation, seiner Wachstumsgeschwindigkeit und Ausbreitung sowie in seinem Ansprechen auf die zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten.
Wenn Menschen an Krebs erkranken, sind sie kein unbeschriebenes Blatt. Sie verfügen über ein mehr oder weniger bewusstes, oft schwer in Worte fassbaresVorwissen über die Erkrankung, das sich aus unterschiedlichsten Quellen speist. Meist mischen sich Fakten mit Mythen und Metaphorischem, mit individuellen Erfahrungen und Erzählungen aus der Familie und dem Freundeskreis sowie mit Informationen aus digitalen Medien. Die so entstandenen Annahmen prägen die ersten Bedeutungsgebungen und Erwartungen, die Patienten mit ihrer Krebsdiagnose verknüpfen.
Krebs ist sehr häufig. In Deutschland erkranken jährlich etwa 500.000 Personen neu an Krebs, bei über 230.000 Menschen war die Erkrankung im Jahr 2018 die Todesursache. Da mit zunehmender Lebenserwartung Krebserkrankungen immer häufiger werden und Krebs dank verbesserter und neuer Therapieoptionen immer mehr zu einer chronischen Erkrankung wird, ist mit einer Zunahme von Krebserkrankungen zu rechnen – trotz aller Bemühungen um Prävention und Früherkennung.
Im Gegensatz zu gesunden Zellen vermehren Krebszellen sich ungezügelt. Unter Laborbedingungen können sie nach der Entnahme den an Krebs Erkrankten um Jahrzehnte überleben. Diese unkontrollierte Vitalität kann das Leben bedrohen (Mukherjee 2012). Krebszellen können umgebendes gesundes Gewebe infiltrieren und zerstören, Organgrenzen durchbrechen und Metastasen bilden.
Trotz aller Möglichkeiten der modernen Medizin zur wirksamen Behandlung kann jede Krebsdiagnose als existenzielle Bedrohung erlebt werden – unabhängig von der medizinischen Prognose, der Malignität der Krebszellen und der Dynamik ihrer Ausbreitung im Organismus. Wenn sich die unvermeidliche Tatsache unserer Sterblichkeit nicht mehr beiseiteschieben lässt, sind wir mit der Endlichkeit der menschlichen Existenz konfrontiert. Es sind die eigenen Zellen, die durch unkontrolliertes Wachstum und ungebremste Verbreitung »bösartig« werden und letztlich das Leben kosten können. Oft ruhen Krebszellen über Jahre oder Jahrzehnte und bleiben im Verborgenen, bis sie sich in körperlichen Symptomen äußern. Oder – was oft noch mehr verunsichert – sie werden durch Zufall oder bei einer Vorsorgeuntersuchung entdeckt. Die mit Krebs verknüpften Vorstellungen sind oft geprägt von Assoziationen hilflosen Ausgeliefertseins, von Schmerzen und Leiden durch die Erkrankung selbst oder durch belastende Therapien.
Der Wunsch, das Unberechenbare und »Böse«, das im eigenen Körper wächst, zu kontrollieren, nährt die Suche nach dessen Ursachen. Die Neigung oder Prädisposition, an Krebs zu erkranken, kann in den Genen vererbt werden, oder ein bestimmter Lebensstil kann die Krebsentstehung begünstigen. Nicht selten fühlen sich Menschen durch eine Krebserkrankung für ein Risikoverhalten und ihre ungesunde Lebensführung bestraft. Schuld- und Schamgefühle werden oft auch von ärztlicher Seite geschürt, sei es durch den Hinweis auf Risikoverhalten wie übermäßige UV-Licht-Exposition bei Hautkrebs, Rauchen bei Lungenkrebs, Alkoholabusus, ungesunde Ernährung und Übergewicht, Bewegungsmangel oder wechselnde Sexualpartner, versäumte Früherkennung oder durch zu späte Inanspruchnahme diagnostischer Maßnahmen.
Bei Krebserkrankungen leben Teile des Organismus auf Kosten des Ganzen und können dessen Untergang herbeiführen. Dieses Charakteristikum führt in nichtmedizinischen Kontexten zur metaphorischen Verwendung des Begriffs »Krebsgeschwür« als Inbegriff des Schädlichen und Bösartigen.
So trägt vieles dazu bei, dass es keineswegs selten noch als Tabu erlebt wird, über Krebs zu sprechen. Das erschwert die Kommunikation zwischen den Erkrankten und ihrem Umfeld, aber auch mit den Behandlern. Auf der anderen Seite scheint sich oft alles nur noch um die Erkrankung und die mit ihr verbundenen Bedrohungen und Folgen zu drehen. Nach dem ersten Schock wird für den Kampf gegen den Krebs mobilisiert.
Der Kampf und Krieg gegen den Krebs ist wohl die wirkmächtigste Metapher im Bereich der Medizin. Indem Richard Nixon 1971 den »Krieg gegen den Krebs« (»war on cancer«) ausrief, erklärte der damalige US-Präsident der Krankheit gewissermaßen den Krieg. Fünfzig Jahre später weiß man sehr viel mehr über die Komplexität seiner Entstehung, sodass die Illusion eines endgültigen Sieges der Medizin über den Krebs unsinnig erscheint. Dem einzelnen Patienten kann der Mythos des Kampfes allerdings ein Gefühl von Würde, von Selbstachtung, Stärke und Kontrolle verleihen. Den Kampf aufzunehmen und aktiv zu gestalten befreit aus der Opferrolle. Auch wenn der Betroffene den Kampf verliert, kann er sich als tapferer und mutiger Kämpfer fühlen, der nie aufgegeben hat. Auf der anderen Seite kann der Kämpfermythos auch dazu führen, dass eine Verschlechterung der Krankheit auf mangelnden Kampfgeist zurückgeführt und somit als eigenes Versagen erlebt wird. Unhinterfragt kann sich der Mythos auch dahingehend auswirken, dass sich Patienten innerlich oder von außen gedrängt fühlen, aussichtslose und zugleich Leid bringende Kämpfe zu führen. Und selbst wenn die Krankheit überwunden wird, bleibt der Tod letztlich unvermeidlich. Kriegsmetaphern rufen Bilder des Kampfes zwischen dem Guten und dem Bösen hervor, zwischen Mächten des Lichtes und der Finsternis, zwischen Leben und Tod. Sie produzieren Sieger und Verlierer, maximal herrscht für eine gewisse Zeit Waffenstillstand.
Vorstellungen von Kampf und Krieg führen nicht selten zur symmetrischen Eskalation: Je größer die dem Feind zugeschriebene Bedrohung wird, desto gewaltvoller und radikaler werden die Waffen. So besteht die Gefahr, im Kampf gegen die Krankheit den Patienten als ganze Person zu vergessen. Körperteile werden in Operationen geopfert, Chemotherapien und energiereiche Strahlen werden in maximal tolerierbarer Dosis verabreicht, wobei oft erhebliche Schädigungen gesunder Zellen in Kauf genommen werden müssen. Viele Therapien sind invasiv und nebenwirkungsreich und beeinträchtigen die Lebensqualität. Manche – wie beispielsweise Knochenmarktransplantationen bei Leukämien – beinhalten sogar das Risiko, an den Folgen der Therapie zu sterben, das Auftreten weiterer Krebserkrankungen zu fördern und die Lebenserwartung insgesamt zu verkürzen. Obwohl der Preis hoch ist, wird er angesichts eines möglichen Gewinns bezahlt. Ob sich die Opfer lohnen, stellt sich im Einzelfall erst im Nachhinein heraus. Jeder Betroffene kann diese Frage nur für sich selbst beantworten.
Neben Kampf und Krieg finden sich rund um Krebs auch noch andere Metaphern. Die Metapher der Reise betont den prozesshaften zeitlichen und oft chronischen Verlauf einer Krebserkrankung. Der Mythos erinnert an die Heldenreisen der Antike, die Suche nach dem heiligen Gral oder an Entwicklungsgeschichten von Helden auf der Suche nach Weisheit. Auch krebskranke Menschen können sich als Helden erleben, die sich im gefährlichen Land von Krankheit und Tod oder in unbekannten Innenwelten wiederfinden und eines Tages gereift heimkehren. Manche Patienten vergleichen die Erfahrung des Überlebens der Erkrankung und der Therapie mit einer Neu- oder Wiedergeburt, der die Chance eines Neubeginns innewohnt.
Mythen und Metaphern wirken integrierend und sinnstiftend, indem sie helfen, Unbekanntes durch Analogien mit Bekanntem zu verstehen und Erfahrungen in ein größeres Ganzes einzuordnen. Sie sind Quellen von Symbolen, Bildern und Geschichten. Hypnotherapeutisch und systemisch (»hypnosystemisch«) geprägte Begleiter achten auf die Bilder und Metaphern des Patienten und auf deren Auswirkungen, also darauf, ob sie ihn befähigen und stärken oder einschränken und schwächen. Sie schlagen dem Patienten auch neue Bilder und Metaphern vor und geben Impulse, die zur positiven und heilungsfördernden Gestaltung seiner individuellen Wirklichkeit beitragen und inneren Frieden und Wohlbefinden möglich machen. In der Achtsamkeitspraxis übt man, immer wieder innezuhalten, um die Auswirkungen der inneren Bilder zu erkennen und im Beobachtermodus beispielsweise zu bemerken, wenn sich eine übermäßige Identifikation mit dem »Kämpfer« auf unheilsame Weise auswirkt.
3.2Der Patient und sein individuelles Erleben
Wenn heutzutage in der Onkologie von einer personalisierten Krebstherapie gesprochen wird, dann sind damit in der Regel Vorgehensweisen gemeint, bei denen die Tumorzellen eines Patienten molekularbiologisch untersucht werden. Dabei wird nach bestimmten Biomarkern gefahndet, um die Krebszellen an den veränderten Stellen zielgerichtet anzugreifen (»targeted therapy«).
Wenn wir in der Psychoonkologie und einer biopsychosoziospirituellen Praxis von einer individualisierten und maßgeschneiderten Therapie sprechen, so ist damit etwas weit Umfassenderes gemeint. Bei der Begleitung von Patienten mit Krebserkrankungen wird nicht nur der Tumor, sondern der ganze Organismus und die ganze Person mit ihren Bedürfnissen und Werten und in ihrer soziokulturellen Einbettung wahrgenommen und berücksichtigt. Die Geschichte der Krankheit und die Erfahrungen des Krankseins werden als Teil der Geschichte eines erkrankten Menschen verstanden. Die Bedeutung, die er seiner Erkrankung gibt, wird auf dem Hintergrund seiner aktuellen Lebensphase und Situation gesehen. Sie ist auch von jenen Geschichten geprägt, die in seiner Familie über Krebs erzählt werden und wurden, wie Verwandte oder Bekannte mit ihrer Krankheit umgegangen sind, wie sie mit ihr gelebt haben oder gestorben sind.
Eine auf den ersten Blick paradox erscheinende Frage ist bei chronischen Erkrankungen von großer Bedeutung: Wie viel Krankheit verträgt Gesundsein (Ebell 2017a)? Wie kann es also gelingen, dass sich Menschen trotz einer Krebserkrankung – selbst wenn sie fortschreitet – als erstaunlich gesund erleben? Auch diese Frage ist nur höchst individuell zu beantworten. Die Vorstellung eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums bietet eine konzeptuelle Basis für ein »Sowohl-als-auch«. So zeigt die Perspektive der Salutogenese, der Erforschung der Frage, wie Gesundheit entsteht, Wege auf, neben aller Krankheit auch Gesundheit und Gesundsein zu fördern (Abschn. 4.4). Das Ausmaß an Krankheit, das sich mit dem Gesundsein eines Menschen verträgt, ist erstaunlich groß, wenn er über Eigenschaften verfügt, die man als Resilienz zusammenfassen kann (S. 49 f.), und es trotz der Krankheit möglich ist, Gesundheitsziele zu verfolgen.
Das subjektive Erleben und das mit der Erkrankung verbundene Leiden des Patienten werden maßgeblich von der aktuellenKrankheitsphase geprägt. Zunächst stehen meist Diagnostik und Therapie mit der Hoffnung auf Heilung im Vordergrund. Es kann auch ein Rezidiv diagnostiziert worden sein oder sich die Aufgabe stellen, sich mit dem bevorstehenden Sterben auseinanderzusetzen.
Therapeutisch wirksame Kommunikation trachtet danach, all dies zu berücksichtigen. Sie betont neben einer arzt- und krankheitszentrierten Sicht die Bedeutung der individuellen Wirklichkeit des Patienten und seines subjektiven Erlebens und Leidens und orientiert sich primär an seinen Bedürfnissen. Sie versteht Kommunikation als eingebettet in eine therapeutische Beziehung und deren gesundheitsfördernde Auswirkungen. Therapeutisch wirksame Kommunikation fördert einen mehrfachen Perspektivenwechsel:
•vom Kampf gegen die Krankheit hin zu dem, was stattdessen wünschenswert ist
•von dem, was nicht (mehr) möglich ist, hin zu dem, was möglich ist
•von der Einengung der Aufmerksamkeit auf die Symptome der Krankheit hin zur Förderung gesunder Anteile
•von der Fokussierung auf Probleme hin zum Suchen, Finden und Fördern von Ressourcen.
Die therapeutisch wirksame Kommunikation bildet den Kern unseres Vorgehens (Abschn. 4).
3.3Die Behandler in der Onkologie und ihre Rollen
Krebs als körperliche Erkrankung erfordert eine angemessene medizinische Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst. In der aktuellen Medizin ergeben sich diese Regeln aus der Praxis einer sogenannten evidenzbasierten Medizin (EbM). Wir beziehen uns dabei auf eine Definition, die unter EbM die Integration dreier Elemente versteht – der Expertise des Arztes, der Evidenz aus der Forschung und der Individualität des einzelnen Patienten (Sackett et al. 1996, S. 71; Übers. d. Verf.):
»Die Praxis der evidenzbasierten Medizin bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der besten verfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung. Mit individueller klinischer Expertise meinen wir das Können und die Urteilskraft, die Ärzte durch ihre Erfahrung und klinische Praxis erwerben. Ein Zuwachs an Expertise spiegelt sich auf vielerlei Weise wider […] und in einem umsichtigen und mitfühlenden Erkennen und Berücksichtigen der Problematik des individuellen Patienten, seiner Rechte und Präferenzen bei der klinischen Entscheidungsfindung für seine Behandlung.«
Krebserkrankungen und ihre Therapien stellen Belastungen dar, die nicht selten die unmittelbar Betroffenen und die mitbetroffenen Angehörigen an ihre Grenzen bringen. Auch dafür gilt es im Rahmen der onkologischen Behandlung Unterstützung anzubieten.
Die alltägliche Kommunikation mit den Patienten stellt eine große Herausforderung für alle Beteiligten dar: Dazu gehören die Gestaltung auch kurzer Patientenkontakte, die Art und Weise der Vermittlung bzw. des Austauschs von Information oder die Entscheidungsfindung bei der Erstellung eines Gesamtbehandlungsplans und dessen prozessorientierte Modifikation. Diese Herausforderungen werden im Klinikalltag keineswegs immer optimal bewältigt. Dabei entsteht viel unnötiges Leiden, oft aus Zeitmangel. Aber auch viele zeitsparende Möglichkeiten therapeutisch wirksamer Kommunikation verstreichen ungenutzt.