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Stephen Flowers Lords of the Left-Hand Path
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Der schöpferische und produktive Aspekt des kosmischen Prozesses wird durch die rechte Hand, die Farbe weiß und die beiden Göttinnen Uma und Gauri symbolisiert (in der Shakti als Prakashatmika, ‚die Helle und Offenbare’, erscheint). Der zweite Aspekt, derjenige von Abkehr und Umkehr (exitus, reditus), wird durch die linke Hand, die Farbe schwarz sowie durch die dunklen, destruktiven Göttinnen Durga und Kali ausgedrückt. Daher erfahren wir, gemäß dem Mahakala-Tantra, das Samsara, wenn sich linke und rechte Hand im Gleichgewicht befinden, aber wenn die rechte Hand obsiegt, finden wir die Befreiung.9
Eine weitere faszinierende Beschreibung der beiden Wege spiritueller Entwicklung im hinduistischen Kontext findet sich in der Unterscheidung zweier Richtungen, die die Seele auf ihrer Reise nach dem Tod einschlägt: Devayana ist der Weg der Devas (Götter), und Pitriyana ist der Weg der Pitris (Ahnen). Das Devayana ist der polare, vom Sommerhalbjahr bestimmte Weg, auf dem sich die Sonne Richtung Nordpol bewegt. Diejenigen, die sich nach dem Tod auf den Weg des Devayana begeben, sind erleuchtet, werden wie Götter und ihrem Willen entsprechend wiedergeboren. Wer hingegen das Pitriyana beschreitet – den äquatorialen Weg, den der Umlauf der Sonne im Winterhalbjahr beschreibt –, wird gemäß rein natürlicher Gesetzmäßigkeit, d. h. auf ewig nur in seinen reinkarnierten Ahnen, wiedergeboren.10
Alain Daniélou hebt hervor, dass der linkshändige Pfad mit einer „Tendenz zur Desintegration“ (tamas) einhergeht, die
die Kraft der Natur die Leidenschaften und Instinkte des Menschen verwendet, um mit deren Hilfe, die Welt der Sinne zu erobern […].
Dieser Weg führt unmittelbar aus dem Reich der Physik in das der Abstraktion, weil […] die absteigende Tendenz sich an beiden Grenzen der Erscheinungswelt zeigt. [Der linkshändige Pfad kann daher] Erotik und Trunkenheit als Mittel spirituellen Fortschreitens verwenden.11
Der linkshändige Pfad ist im Hinduismus eindeutig mit der Vorstellung einer Des-Integration (Trennung) sowie mit der Praxis des Antinomismus – gegen den Grundbestand der gesellschaftlichen Konventionen zu opponieren mit dem Ziel, spirituelle Macht zu erlangen – verbunden.
Mit den Sanskrit-Begriffen der indischen Schulsysteme gesprochen, sucht der rechtshändige Pfad eine Vereinigung oder Verbindung des Jivatman, des individuellen Selbst oder der Seele, mit dem Paramatman, der höchsten, allgemeinen Seele des Universums zu erlangen. Der linkshändige Pfad strebt lediglich danach, den Jivatman auszudifferenzieren: ihn zu entwickeln, in seiner Eigenart auszubilden und schließlich unsterblich zu machen, ohne je bewusst zu versuchen, ihn auf Dauer mit irgendetwas anderem zu vereinen.12
Von jemandem, der die Einheit mit seinem Jivatman erreicht erreicht habe, wird gesagt, er sei in den Zustand des Jivanmukti eingetreten, in einen Zustand individueller Befreiung. Die klassische Formulierung des Konzepts des Jivanmukti findet sich in einem Text aus dem vierzehnten Jahrhundert von Vidyaranya (gest. 1386), dem Jivanmuktiviveka.13 Womöglich wurde die Idee der „Befreiung schon während des Lebens“ der Sache nach bereits von Samkara (788 - 820) vertreten, und sie blieb ein wesentlicher Bestandteil in der Schule des Advaita Vedanta, der auf Samkaras Interpretationen der Upanishaden beruht. Der Trpti-dipika von Vidyaranya enthält auch Betrachtungen zum Leben von Jivanmuktas.
Der linkshändige Pfad im Hinduismus
Die bedeutendsten und erhellendsten Studien zur Spiritualität des linkshändigen Pfades im hinduistischen Kontext aus neuerer Zeit sind zweifellos die brillanten Darstellungen der Lehren des geheimnisvollen, mysteriösen indischen Weisen Vimalananda aus der Feder des amerikanischen Ayurveda-Meisters Robert Svoboda: Aghora: At the Left Hand of God (1986) und Aghora II: Kundalini (1993).
Allgemein formuliert, ist „Hinduismus“ die Bezeichnung für eine Vielfalt religiöser Schulen, die alle auf die antike arische Tradition zurückgehen, wie sie letztlich in den Veden verwurzelt ist. Es gibt Hunderte von Schulen innerhalb des Hinduismus. Oftmals formulieren sie völlig entgegengesetzte Antworten auf das, was sie für die wesentlichen Fragen halten. Es gibt aber einige Punkte, in denen die meisten dieser Schulen im Großen und Ganzen übereinstimmen:
1. Die Veden enthalten unfehlbare Weisheit.
2. Die Seele (Atman) ist real existent und unsterblich.
3. Die Seele unterliegt dem Prozeß kontinuierlicher Wiedergeburt (Samsara).
4. Dieses Wiedergeborenwerden ist gleichbedeutend mit Leiden.
5. Die Ursache der Wiedergeburt sowie des Leidens ist das Handeln (Karman).
Das Ziel des orthodoxen Hinduismus besteht im Beenden der Wiedergeburten und/oder in der Vereinigung mit dem universalen Absoluten.14 Diese Vereinigung mit dem Absoluten wird als Befreiung bezeichnet (Moksha oder Mukti). Abgesehen von der Übereinstimmung in diesen allgemeinen Prinzipien, sind die Methoden, die verwendet werden, um dieses Ziel zu erreichen, in den verschiedenen hinduistischen Schulen sehr unterschiedlich.
Die größten Sekten innerhalb des Hinduismus sind die Vishnuiten sowie die Shivaiten (die sich von ihrer Verehrung Vishnus bzw. Shivas herleiten). Diese Hauptsekten unterteilen sich in Hunderte von Untergruppen. Auf einer äußersten Seite des hinduistischen Spektrums stehen die philosophischen Schulen, die sich vor allem in der Kaste der Brahmanen finden. Das andere Extrem bilden die tantrischen Kulte. Diese sind selten strikt vedisch und oft antibrahmanisch ausgerichtet. Es wäre allerdings ein großes Missverständnis anzunehmen, dass alle tantrischen Sekten den linkshändigen Pfad beschreiten.
Man kann sagen, dass es seit dem Aufstieg des Buddhismus (an der Wende vom sechsten zum fünften Jahrhundert v.u. Z.) offen häretische Schulen im Hinduismus gibt. Häresie als solche kann erst in einer Religion mit einer starken fixierten Dogmatik zu einem „Problem“ werden. Der Hinduismus ist seit seiner prähistorischen Entstehung aus der vedischen Religion bemerkenswert frei von solchen Dogmen. Es ist daher möglich, dass die Schulen und Philosophien ein derart breites Spektrum von Weltanschauungen innerhalb des Hinduismus bilden können, wie wir es dort finden, und dass auch das, was wir den linkshändigen Pfad nennen, auf dem Boden des Hinduismus geduldet werden kann, ohne dass es „orthodox“ sein müsste.
Diese Toleranz des linkshändigen Pfades entstammt keiner bewusst vertretenen oder legitimierten moralischen „Fairness“, sondern ergibt sich daraus, dass die ursprüngliche Vielheit der spirituellen Wege, die dem archaischen indoeuropäischen Denksystem innewohnte, in beiden indischen Traditionen, in Hinduismus und Buddhismus, erhalten geblieben ist. Wenn das Ideal ein vielfarbiges Spektrum an möglichen Variationen von links nach rechts und von oben nach unten ist, dann fehlt es am Eifer, ein stark dualistisches Denken in Gegensätzen von schwarz und weiß auszubilden. Man denkt dann üblicherweise nicht in Begriffen von „dies oder jenes“, sondern eher „dies und jenes“. In einem solchen System hat ein energischer Sinn für die Schichten der Wirklichkeit und der Bedeutungen überlebt. Dieser unterschwellige Sinn fördert eine systemische Toleranz nachhaltiger als jede andere, die dogmatisch oder juristisch vertreten wird. Freilich heißt das nicht, dass orthodoxe Anhänger des rechtshändigen Pfades typischerweise meinen würden, der linkshändige Pfad sei genauso gut wie ihr eigener. Auch hier wohnt dem rechtshändigen Pfad eine Tendenz inne, in Begriffen von „entweder/oder“ zu denken, weshalb der Orthodoxe von den Praktikern des linkshändigen Pfades (oder von jedem anderen Weg, der von dem seinen abweicht) gewöhnlich denkt, dass sie „falsch“ liegen oder wenigstens teilweise irren: Explizit wird etwa im Vaikhanasasmarta Sutra (aus dem vierten Jahrhundert u. Z.) von den Visaragas behauptet, dass sie „den falschen Weg gehen.“15
Innerhalb des Hinduismus (wie überall) kann der linkshändige Pfad zum einen im Hinblick auf seine Zielsetzung, zum anderen bezüglich seiner Techniken und Methoden untersucht werden. Gemäß einigen erklärten Praktizierenden des Vamamarga (linker Weg) ist das endgültige Ziel des linkshändigen Pfades dasselbe wie im rechtshändigen. Man sagt, dass es zwei Wege seien, die zum selben Ziel führen. Aber es hängt doch immer mit der Perspektive des jeweiligen Sprechers zusammen, von welcher Art dieses Ende sein soll.
Streng genommen, besteht im Hinduismus das Ziel des Praktizierenden des linkshändigen Pfades (Vamamarga) in der Einheit des einzelnen mit seiner individuellen Seele (Jivatman) sowie in der fortdauernden Unabhängigkeit dieses verwirklichten Jivatman von der universalen oder höchsten Seele (Paramatman).16 Man kann es auch so formulieren, dass der Anhänger des Vamamarga versucht, sein individuelles Selbst (Atman) – die persönliche Gottheit – zu aktualisieren und sodann die Unabhängigkeit und Freiheit dieses individuierten Selbst auch in Zukunft zu behaupten.
Insgesamt ist dies, historisch betrachtet, nicht weit von den archaischen indoeuropäischen Glaubensvorstellungen entfernt, nach denen Menschen zu Gottheiten werden konnten, wenn sie ein heroisches oder magisch inspiriertes Leben geführt haben. Die Metaphysik blieb dieselbe, die sie immer war; lediglich eine Um- oder Neubewertung wurde vorgenommen, die auf einer veränderten Auffassung des Lebens als Kampf, als Sieg oder Niederlage, beruht. Während die Urväter in ihm eine ruhmvolle Daseinsfülle erkannten, die sie bis in alle Ewigkeit fortsetzen wollten, sahen die „Reformer“ des Hinduismus wie des Buddhismus das Leben, den „Kreislauf des Werdens“ (Samsara), als „leidhaft“ an.
Neben anderen hat namentlich Julius Evola bemerkt, dass die Tantras durchaus an die ältesten Traditionen der Veden, wie sie im vedischen Zeitalter selbst verstanden wurden, anknüpfen:
Es folgt aus dieser [tätigen] Weltsicht, dass ein Teil des Geistes der frühen vedischen Zeit, trotz aller Veränderungen, in den Tantras lebendig blieb. In der damaligen Zeit lebten die Menschen nicht als Asketen; sie rangen mit der Welt und mit Samsara, fühlten sich jedoch eher von freien, unbeschränkten Kräften durchdrungen, kämpften gemeinsam mit den verschiedenen Göttern und übernatürlichen Mächten und waren von einer kosmischen, triumphierenden Freude erfüllt.17
Der linkshändige Pfad im Rahmen des Tantrismus
Da die Unterscheidung von Dakshinachara und Vamachara verhältnismäßig spät in der Geschichte des Hinduismus vorgenommen wurde – sie geht womöglich nicht weiter als tausend oder fünfzehnhundert Jahre zurück –, reichen die hinduistischen Schulen, von denen zu Recht gesagt werden kann, dass sie dem Vamamarga angehören, streng genommen nicht bis in die ältesten Schichten der historischen Religion des Veda zurück. Wie wir gesehen haben, entstammt der terminus technicus „linkshändiger Pfad“ eigentlich dem hinduistischen Tantrismus. In der globalen Sichtweise, die ich hier einnehme, muss der linkshändige Pfad allerdings nicht allein auf die tantrischen Sekten beschränkt werden. Gleichwohl finden Untersuchungen des linkshändigen Pfades fast wie von selbst innerhalb des Rahmens des Tantrismus statt.18
Einige tantrische Texte unterscheiden sieben „Pfade“ oder „Wege“ (Skt. Acharas). Sie unterteilen sich in den „rechten Pfad“ (Dakshinachara), in den „linken Pfad“ (Vamachara) sowie in manche weiteren Wege, die zwischen diesen beiden verlaufen.19

Abb. 2.2. Sieben tantrische Pfade
Man sagt, dass jemand in einen der Dakshinacharas hineingeboren werde, demgegenüber aber in jeden der Vamacharas initiiert werden müsse.20 Dies steht zweifellos mit den charakteristischen außernatürlichen Tendenzen im Zusammenhang, die überall auf dem linkshändigen Pfad angetroffen werden. Im Wesentlichen dem Weg zu folgen, der durch die Natur, mit der Geburt, vorgezeichnet ist, heißt, mit äußeren Umständen übereinzustimmen. Gegen sein Schicksal aufzubegehren – bewusst und selbständig zu bestimmen, welches der eigene Weg sein soll –, stellt hingegen eine Ausbildung der Fähigkeit dar, mit der sich der Initiierte aus seiner Umwelt löst.
Die drei Stufen der Initiation bei der Ausübung des Vamachara sind:
1. Pashu
2. Vira
3. Divya
Der Pashu ist der „Gefesselte“. Es handelt sich bei ihm um die nichtinitiierte individuelle Seele. Der Pashu verwandelt sich selbst, durch die Kraft seines eigenen Willens, in einen Vira, einen „Helden“ oder „Krieger“. Zu erkennen ist ein Vira an seinem Mut, seiner Freundlichkeit, Klugheit und Regsamkeit. Wenn jemand die Stufe des Vira erreicht hat, ist er fähig, entweder zu einem Dakshinachara oder zu einem Vamachara initiiert zu werden. Wenn er den rechtshändigen Pfad einschlägt, wird er bhakti (Hingabe) pflegen und/oder jnana (Wissen) erwerben, aber auf dem Vamachara-Weg wird er außerdem noch shakti-mantra (besondere geistige Kräfte) entwickeln und das panchatattva (die fünf Elemente) studieren. Die beiden letzteren sind Verbindungen aus Theorie und Praxis, die auch sexuelle Rituale einschließen. Der Geweihte erreicht einen göttlichen (divya) Zustand, wenn alle diese Fähigkeiten „so sehr Bestandteil seines Wesens geworden sind, dass sie von diesem nicht mehr getrennt werden können.“21
Eine andere Weise, die verschiedenen „Pfade“ einzuordnen, besteht in der Ansicht, dass der Weg der Veden, Vaishnava, und Shaiva dem Pashu bestimmt sind, dass Dakshinachara und Vamachara für Viras gelten und schließlich Siddhanta und Kaula den Divyas des linkshändigen Pfades offenstehen, obwohl der Kaulachara symbolisch auch von Eingeweihten des rechtshändigen Pfades praktiziert werden kann (siehe Abb. 2.3).22

Abb. 2.3. Die Pfade der hinduistischen Schulen
Das Kulavana-Tantra unterteilt die Viras des Vamachara in verschiedene Kategorien bzw. Stufen:23
1. Kshatriyas (charakterisiert durch Mut und Furchtlosigkeit)
2. Siddhas (die einen Zustand der Vollendung erreicht haben und als „geweiht“ bezeichnet werden können)
3. Kaulas (deren „Recht“ alle anderen Gesetze übersteigt)
Vimalananda bezeichnet mit dem Wort „Siddha“ jemanden, „der als Ergebnis seiner sadhana [spirituelle Praxis] Unsterblichkeit und übernatürliche Kräfte erreicht hat.“24
Hinsichtlich der Kaulas bemerkt Evola:
Nichts ist dem Kaula sowie denjenigen, die den Zustand eines wahrhaften Siddha-Vira erreicht haben, verboten, da sie einfach sind und wissen. Sie sind Herren ihrer Leidenschaften und gänzlich von Shakti [Macht] durchdrungen. Wie der höchste Shakti oder Parashakti über und jenseits von allen Gegensätzen steht, so lebt der Kaula jenseits von Gut und Böse, Ehre und Schande, Verdienst und Sünde und allen anderen Werten, die von gewöhnlichen Menschen, sogenannten Pashus, hochgeschätzt werden.25
Shakti (Macht) wird oft damit gleichgesetzt, „absolut frei“ zu sein, und in demselben Zusammenhang wird der Kaula svecchakari („jemand, der/die tun kann, was ihm/ihr beliebt“) genannt. Pashus oder andere Alltagsmenschen werden die Kaulas wegen ihres Verhaltens oder allein schon wegen ihrer Anwesenheit oftmals fürchten, meiden oder verfluchen.26
Einer der bezeichnendsten Unterschiede zwischen den beiden tantrischen Pfaden – obwohl sie beide unter der Herrschaft Shivas stehen –, liegt darin, dass der Adept auf dem rechtshändigen Pfad immer, selbst auf der höchsten Stufe seiner Verwirklichung, „etwas über ihm Stehendes“ anerkennt. Im Gegensatz dazu wird der Eingeweihte auf dem linkshändigen Pfad selbst die „höchste Autorität“ [Chakravartin, der „Weltherrscher“].27
In einem eher allgemeinen Sinn, der strukturell auf die menschlichen Existenzstufen verweist, die der italienische neuplatonische Philosoph Pico della Mirandola beschreibt (siehe Kap. 6 dieses Buches), legt Vimalananda die drei Seinszustände dar, in denen die verschiedenen Menschentypen existieren können: als Khara („Esel“), Nara („Mensch“) oder als Narayana („Gott selbst“). Vom Khara wird gesagt, dass er „nur an die drei untersten Chakras glaube“ (= an Essen, Fortpflanzen und Ausscheiden); sein Reich ist Abhibhautika (das Weltliche). Dem Nara oder „wahren Menschen“ wird immerhin zugesprochen, dass er im Bereich der drei oberen Chakras lebe. Weiterhin wird angenommen, dass zu jeder Zeit nur sehr wenige Naras in der Welt leben. Ihr Reich ist dasjenige des Adhyatmika (das Spirituelle). Nur ein Nara kann zu einem Narayana werden, was, von der spirituellen Technik her, dadurch geschehen soll, dass er Zugang zu den geheimen Chakras in seinem Kopfe findet. (Unten wird dies näher behandelt.) Das Reich, in dem der Narayana lebt, wird Adhidaivika (das „Astrale“) genannt.28
Vamacharins bzw. Praktizierende des linkshändigen Pfades sind gewöhnlich unter den Sekten zu finden, die dem Dienst der Götter Ganesha, Rudra, Vishnu, Shiva, Svayambhu, Veda, Bhairava, Ksetrapala, China, Kapalika, Pashupata, Bauddha, Kerala, Vira-Vaishnava, Sambhava, Chandra und Aghora verpflichtet sind oder den Göttinnen Kali, Tara, Sundari, Bharavi, Chinnamasta, Matangi und Vagala dienen. Es ist immer wichtig, im Auge zu behalten, dass der linkshändige wie der rechtshändige Pfad hier eher Methoden oder Zugangsweisen als Schulen sind, die an und für sich bestehen.
Methoden des linkshändigen Pfades im Hinduismus
Obwohl Vamacharins in all den verschiedenen, soeben erwähnten Kultgemeinschaften angetroffen werden können, ist es grundsätzlich die Verehrung der Göttin, in der Gestalt einer menschlichen Frau oder in Form weiblicher Symbole, durch die der männliche Vamacharin den linkshändigen Pfad praktiziert. Abgesehen von der Bedeutung „links“ steht das Sanskritwort vama auch für „Frau“ oder „Göttin“.29 Dahinter verbirgt sich die eigentliche Bedeutung, dass sowohl die Göttin als auch die Frau als Verkörperungen von Shakti (Macht) angesehen werden.30 Es ist, zumal aus einer männlichen Perspektive, einleuchtend, dass das Wesen eines Vamachara in der vollständigen Verwandlung des initiierten Menschen in etwas Übermenschliches und einem Gott (oder einer Göttin) Gleiches besteht. Dies gehört zu den Ursachen für die große Bedeutung des Antinomismus (der Zurückweisung aller Arten von Vorschriften) für die Verfahrensweisen aller östlichen Ausprägungen des linkshändigen Pfades.
Ein häufig übersehener Aspekt sowohl des Individualismus als auch des Antinomismus der indischen Systeme des linkshändigen Pfades verbirgt sich in den Lehren des Hatha Yoga. Das Sanskritwort hatha bedeutet „Kraft“ oder „mühsame Anstrengung“, weshalb es dazu verwendet wurde, solche yogischen Methoden zu bezeichnen, die sich vor allem des menschlichen Körpers als physisches Vehikel bedienen.31 Von der Übung des reinen Hatha Yoga wird gesagt, dass sie Jivanmukti hervorbringen und dem individuellen Dasein Unsterblichkeit verschaffen könne, indem „alle psychophysischen Energien“ aktiviert würden.32 In den Upanischaden heißt es, „jeder Gott ist hier, im Körper, eingeschlossen“, und auch die Tantras schätzen Körperlichkeit und individuelle Existenz hoch: „Shiva ist Sadashiva [= Shiva als reines „Sein“ betrachtet]33.“ Die Tantras zeigen, wie das Vedische Zeitalter, keine Verachtung des Körpers – im Gegenteil wird sowohl sein Genuß als auch seine Ergründung zwecks Enthüllung der in ihm verborgenen Geheimnisse hervorgehoben.34
Von außen gesehen besteht einer der wesentlichen Unterschiede zwischen den Methoden des Dakshinamarga und des Vamamarga darin, dass der Dakshinacharin seine „Verehrung mit Hilfe eines Ersatzes“ ausübt, während der Vamacharin das anderenfalls nur Symbolische real praktiziert. Es kann vorkommen, dass er an Grausamkeiten und anderen Abirrungen von den sozialen und religiösen Normen als einem Weg teilhat, sich selbst völlig außerhalb der profanen Gesellschaft zu platzieren. Dadurch wird er von den Fesseln und Tabus der Gesellschaft befreit und befreit sich damit zugleich auch von den spirituellen Fesseln.35 (Man bedenke die virtuelle Identität von spiritueller und sozialer Ordnung, wie sie im indischen Kastensystem zum Ausdruck kommt!) Die Verfahrensweisen des linkshändigen Pfades scheinen die bei weitem archaischeren zu sein.36
Eines der Hauptprinzipien der Praxis des linkshändigen Pfades liegt darin, Befreiung (hier „Yoga“ genannt) anzustreben und dennoch die Fähigkeit, Freude (Bhoga) zu empfinden, zu behalten. Die Methode, die dies ermöglicht, impliziert die Identifikation (Smadhi) des individuellen Selbst mit einem höheren Selbst während eines Glückszustandes (Bhoga).37 Im Kularnava Samhita (5.219) heißt es dazu: „Durch Freude erwirkt jemand Befreiung; Freude ist das Mittel, den höchsten Wohnsitz zu erlangen. Der Weise, der [den Geist] zu erobern verlangt, sollte daher alle Freuden erfahren.“38
Vimalananda deutet auf einen Grund hin, weshalb sich der Anhänger des linkshändigen Pfades nicht mit einer Gottheit außerhalb seiner selbst identifiziert: Es liegt einfach daran, dass er das Göttliche und die Anwesenheit in seiner Nähe so sehr liebt, dass er seine Gedanken und Gefühle kontrolliert, um die Wirklichkeit dieser „Gemeinschaft mit dem Geliebten“ besser genießen zu können.39
Wer dem Vamamarga folgt, wird möglicherweise völlig die Methoden und Rituale des Dakshinamarga als unnütz oder ohne jede Hilfe für die geistige Entwicklung zurückweisen. Vielleicht wird er die Verehrung seiner Gottheit tagsüber auf traditionelle Weise fortsetzen und in der Nacht die Riten des Vamachara praktizieren. Nächtliche Kultpraktiken sind oft Kennzeichen antinomistischer Schulen.
Vimalananda unterscheidet zwischen zwei „Wegen“: dem Weg des Jnana (Wissen) und dem des Bhakti (Andacht). Wenn ein Schüler dem Weg des Jnana folgt, trennt er sich, wie man sagt, von seinem gewöhnlichen Körper und vereinigt sich selbst mit seinem „kausalen Körper“; von diesem Zeitpunkt an befolgt man die Weisungen (Adesha) eines inneren Guru. Wenn man andererseits den Bhakti-Weg geht, behält man die kontinuierliche Hingabe an ein Wesen bei, das außerhalb seiner selbst wahrgenommen wird. Hinsichtlich der Frage nach der Einheit mit einer Gottheit (in diesem Fall Krishna) sagt Vimalananda: „Aber die meisten Verehrer Krishnas wollen sich niemals mit ihm vereinigen; sie wünschen allesamt ihre eigenen Identitäten zu behalten, um seine Süßigkeit immer und immer wieder, für immer und ewig, zu schmecken.“40
Mit Bezug auf die Perspektive des linkshändigen Pfades fügt Svoboda hinzu, dass „man auf dem Weg des Jnana selbst Shiva wird, während man ihn auf dem Weg des Bhakti nur verehrt, aber von ihm unterschieden bleibt.“41 Diese Differenzierung ist von großer Bedeutung und sollte genau verstanden werden. Sie scheint für den linkshändigen Pfad von universeller Geltung zu sein. Auf dem Weg des Jnana verwandelt sich der Praktizierende selbst in ein Wesen von göttlicher Art, ohne seine eigene individuelle Existenz zu heiligen, während der Anhänger des linkshändigen Bhakti-Pfades danach strebt, seinem göttlichen Gegenüber nahe zu kommen und in der Gegenwart dieser Gottheit zu leben, ohne sich mit ihr zu vereinigen.42
Antinomismus findet sich in vielen Schulrichtungen des linkshändigen Pfades überall auf der Welt. In jeder Schule haben Philosophie und Praxis ihren eigenen Seinsgrund, aber allen liegt das Gebot des linkshändigen Pfades zugrunde, sowohl das eigene Selbst als auch die eigene Welt zu verwandeln. Um etwas zu verwandeln, muss man seine alte Form erst auflösen, bevor man ihm seine neue, gewünschte Gestalt geben kann. Um etwas zu re-konstruieren, muss es zunächst de-konstruiert werden. Diese postmoderne Auffassung ist in Wahrheit ziemlich alt.