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Ludger Fischer Spot(t) auf Brüssel
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Małgorzata versucht, einen sauberen Job zu machen. Sie spricht mit ihrer Assistentin, arbeitet Referate aus, nimmt an Diskussionen teil, verfasst Stellungnahmen, schreibt Artikel für Zeitschriften und Zeitungen, liest selbst Zeitungen und Onlinedienste, beantwortet Mails, führt Telefonate, betreut Besuchergruppen, nimmt an Sitzungen von Landesgruppen, nationalen Parteien, Fraktionen, Ausschüssen, Plenen teil, fliegt nach und von Brüssel oder Straßburg. Zwischendurch spricht sie mit Lobbyisten. Die geben ihr wichtige Hintergrundinformationen, die sie bei ihrer Arbeit gut verwenden kann.
Małgorzata ist nicht Fraktionsleiterin. Das traut sie sich nicht zu. Noch nicht. Sie ist aber auch keine Ausschussvorsitzende, keine Berichterstatterin, nicht einmal Schattenberichterstatterin für ihre Fraktion. Als Berichterstatterin müsste sie den Kolleginnen und Kollegen ihrer Fraktion sagen, welche Meinungen die in ihrem jeweiligen Ausschuss zu einem Vorschlag der EU-Kommission vertreten sollen. Die können sich ja gar nicht alle intensiv mit den über zweitausend Themen beschäftigen, die jährlich auf ihren Tisch kommen. Da folgen sie meistens den Empfehlungen ihrer Berichterstatter. Als Berichterstatterin hätte Małgorzata bei einem Gesetzesvorschlag der Kommission einen enorm großen Einfluss. Sie würde auch gerne einmal Abstimmungsempfehlungen aussprechen. Bisher stimmt sie aber nur ab.
Das ist schwierig genug. Ob sie im Interesse ihrer Fraktion für oder gegen einen Änderungsantrag stimmen soll, steht in den Abstimmungslisten. Die werden kurz vor der mühsamen Prozedur verteilt. Meistens ist dafür aber keine Zeit und dann achten alle Mitglieder einer Fraktion einfach auf den Daumen ihres Berichterstatters. Geht der Daumen hoch, stimmen sie für die Annahme, geht der Daumen runter, stimmen sie gegen die Annahme eines Änderungsantrags. Oder sie enthalten sich, wenn keine ausdrückliche Empfehlung gegeben wird. Dafür bleiben oft nur wenige Sekunden Zeit. Dann kommt’s zu Missverständnissen: »Ich dachte, sie hätte den Daumen hochgehalten.« Der Depp neben ihr stimmt oft falsch ab. Er gehört zum Glück nicht zu ihrer Fraktion. Małgorzata hat sowieso den Eindruck, dass er systematisch einmal für und einmal gegen einen Antrag stimmt. Ein Idiot!
Für Małgorzata ist der Daumen ihres Fraktionsführers vor allem dann wichtig, wenn die Formulierung im Änderungsantrag missverständlich ist. Da stehen oft ganz unlogische Sachen. So was etwa: »Eine Prüfung des Antrags findet nicht statt, wenn keine Zustimmung zum Antragsgegenstand zuvor abgelehnt worden ist.« Soll sie dafür stimmen und damit gegen eine erneute Prüfung? Ist ihre eigene Partei dafür oder dagegen? Małgorzata weiß es nicht immer. Und dann gibt es noch die Formulierungen, die mit einer doppelten Negation arbeiten. Neulich stand in einem Änderungsantrag: »Die Bedingung gilt als nicht erfüllt, wenn keines der oben genannten Kriterien zutrifft.« Da kam Małgorzata ins Grübeln. Was meinten die bloß? Dabei sind die Formulierungen doch schon alle vom juristischen Dienst überprüft worden! Ob da wirklich so kluge Leute arbeiten? Immerhin geht es oft um Millionen Euro! Man kann sie entweder sinnlos ausgegeben, oder man kann sie sinnvoll einsetzen. Und es geht auch um Einschränkungen. Damit kann man in ganz Europa viel Leid verhindern. Oder man kann das Leid erst schaffen. Manchmal heißt es, es gehe bloß um Vereinfachungen. Dabei ist Małgorzata völlig klar, dass solche Vereinfachungen Vorteile für wenige und Nachteile für viele bedeuten können. Oder umgekehrt. Bei dem Gezanke um Änderungsanträge anderer Abgeordneter muss Małgorzata auch die Machtkämpfe in ihrer Partei überleben.
Sie findet, dass es ein unhaltbarer Zustand ist, an zwei Orten, Straßburg und Brüssel, arbeiten zu müssen. Ihr Sekretariat in Luxemburg hat sie sowieso noch nie gesehen. Die monatlichen Reisen nach Straßburg sind eine reine Farce. Da werden kistenweise Akten von Brüssel nach Straßburg und zurück gekarrt. Małgorzata hat einmal gehört, mit dem Sitzungsort Straßburg verhalte es sich so wie mit dem vom Diktator Pinochet von Santiago nach Valparaíso ausgelagerten Parlament von Chile. Er hatte das störende Parlament einfach abgeschoben. Ähnlich verhalte es sich mit den Franzosen. Sie wollten die Parlamentarier durch das ständige Hin-und-her-Fahren einfach körperlich entkräften und die Position des Parlaments damit schwächen. Ihre Kollegen hatten das zwar wie einen Witz formuliert, aber Małgorzata findet, dass da was dran sein könnte.
Małgorzata nimmt bei ihren Reisen nach Straßburg immer nur eine Tasche mit. Da kann auch nichts verloren gehen. Ihre Kollegen können ohne den Inhalt ihrer Kisten angeblich nicht arbeiten. Sie leiden, wenn mal so eine Kiste zu spät ankommt, wie eine Diva, der ein falscher Tee gereicht wurde. Auf dem Gang hört Małgorzata dann das Geschrei: »Ich kann so nicht arbeiten!« Das runde Haus in Straßburg hat aber noch mehr Tücken. Bei bedecktem Himmel weiß man nie, wo man sich eigentlich befindet. Małgorzata ist mal auf ihrer eigenen Etage mehrfach im Kreis gelaufen. Nach der zweiten Umrundung erbarmte sich der Assistent einer Kollegin und brachte sie zu ihrem Büro. Wenigstens der kannte sie.
In ihrem Wahlkreis kennt sie kaum jemand. Deshalb muss sie sich da gelegentlich blicken lassen. Die Leute in Poznań machen sie dann für alles verantwortlich, was in Europa schiefläuft. Oder für das, was angeblich schiefläuft. Dabei verstehen ihre eigenen Leute nicht die Bohne von dem, was in Brüssel läuft. Sie hat es satt, den Brüsseler Zirkus rechtfertigen zu müssen. Ihre Wähler sind bloß froh, endlich mal jemanden am Wickel zu haben, dem man gehörig die Meinung sagen kann. Bei einer Wahlbeteiligung von 45,68 Prozent bei der Europawahl im Jahr 2019 sollte man wohl eher von Nichtwählern sprechen. In Deutschland hatten da immerhin 61,38 Prozent der Berechtigten gewählt. Das mit dem »Meinung sagen«, »sich Luft machen«, »kein Blatt vor den Mund nehmen« machen die Leute in ihrem Land gerne. Małgorzata versucht dann, den Nichtwählern »draußen im Lande« zu erklären, was sie tut. Sie sagt, dass sie immerhin »das Schlimmste verhindert«. Skeptisches Murmeln. Sie tue das »mit vollem Einsatz«. Höhnisches Keckern. Dass meistens nichts dabei rauskommt, drückt sie etwas anders aus. Sie verkauft ihre Niederlagen als kleine Siege. Ironischer Applaus.
Ihre Positionen verkündet Małgorzata als Wortmeldungen im Parlament. Da darf sie manchmal eine Minute sprechen. Das wird sogar in alle EU-Amtssprachen übersetzt, und nach ein paar Sekunden haben die anderen siebenhundertundvier Abgeordneten dann gehört, was die Übersetzer von dem verstanden haben, was sie gesagt hat. Verstanden haben die Abgeordneten das, was sie gesagt hat, meistens nicht. Weil siebenhundertundvier Menschen ein sehr begrenztes Publikum sind, stellt Małgorzata ihre Wortmeldungen auch auf ihre Internetseite und verbreitet sie über Facebook, Twitter und Instagram. Da hat sie insgesamt fast zwölftausend Follower. Das sind nicht so viele, wie ihr deutscher Kollege Sonneborn hat. Dem folgen über fünfhunderttausend Leute. Für sie, findet Małgorzata, sind zwölftausend aber schon nicht schlecht. Meistens bezieht sie eine klare Position. Selten kann sie sich damit durchsetzen. Dann maulen die, die für die Durchsetzung keinen Finger gerührt haben. Nach Veranstaltungen in ihrer Heimat flüchtet Małgorzata immer schnell nach Brüssel. In Brüssel sprechen zwar nur wenige ihre Sprache, aber wenigstens versteht man sie dort.
Praxistipp: Sehen Sie sich mal die Internetseite des Europäischen Parlaments an. Die Adresse: www.europarl.europa.eu. Ich wette, Sie kennen keine 3 der 705 Abgeordneten. Ich wette weiter, dass Sie keine 3 der 96 deutschen Abgeordneten kennen. Wahrscheinlich kennen Sie nicht einmal die Abgeordneten der Partei, hinter die Sie bei Europawahlen immer hoffnungsvoll Ihr Kreuzchen machen. Sie müssen sich dafür nicht schämen. Damit wissen Sie nämlich so wenig vom Europäischen Parlament wie 99,9 Prozent aller Europäer. Irgendwo finden Sie da auch die Seite des Wissenschaftlichen Diensts, der jetzt »Thinktank« heißt. Da gibt es kostenlos ausführliche Analysen zu politischen Themen, leider alles nur auf Englisch.
Von der angezeigten Landkarte auf der Parlaments-Internetseite sollten Sie sich nicht irritieren lassen. Auf der Karte wird nicht zwischen Meer und Nicht-EU-Ländern unterschieden. Der europäischen Landmasse fehlt schon immer Norwegen und es fehlt seit 2021 auch Großbritannien. Irland treibt, rechts oben angefressen, einsam im Atlantik. Nordirland fehlt natürlich. Kroatien bildet eine spitze Halbinsel in einer seltsam vergrößerten Adria. Und das, was ich für einen Riesensee gehalten habe, ist tatsächlich die Schweiz.
Die meisten Abgeordneten kennen sich nicht
so gut aus. Ihre Assis aber. Etwas
Weil der Abgeordnete, für den er arbeitet, ein Grüner ist, gilt für Guido nicht der übliche Dresscode des Europäischen Parlaments: Für Männer ein dunkler Anzug mit Krawatte, für Frauen ein dezentes Kostüm. Ein sehr dezentes Kostüm. Das gilt für die meisten Abgeordneten und deren Assistenten. Guido läuft dagegen im Herbst, im Winter und im Frühling mit einer Cordhose rum, darüber ein Pullover, der wie selbst gestrickt aussehen soll. Im Sommer irgendwas Schlabberiges. Sein Chef, ein Italiener aus Mailand, der immer edelste Anzüge trägt, findet das gut. Für ihn ist das ein Symbol für Vielfältigkeit, und Vielfältigkeit unterstützt er, wo er kann. Sein Biologiestudium wollte Guido immer mit einer Promotion krönen, zu der es aber wegen seiner selbst eingestandenen Faulheit nie kam. Seinen Chef stört das nicht. Es ist ihm im Gegenteil sehr recht, denn so ist er der einzige »Dottore« im Büro. Und in der Partei. Guido versorgt ihn mit Fachwissen zu allen Lebensmittelfragen. Da kennt er sich aus. Und wo er sich nicht auskennt, fragt er »seine Leute«. So nennt er eine Schar von Lobbyisten, die er je nach Bedarf anzapfen kann, natürlich kostenlos – beziehungsweise so, dass für ihn ein kennerhaftes Dossier und mindestens ein üppiges Mittagessen dabei herausspringt.
Wenn’s ans Bezahlen geht, stellt er immer überrascht fest, dass er sein Portemonnaie vergessen hat. Er bietet dann an, beim nächsten Mal die Rechnung zu übernehmen. Keiner der Lobbyisten, mit denen er sich trifft, glaubt das. Sie können die Arbeitsessen aber als Betriebsausgaben von ihren Verbänden zurückfordern und Bestechung ist das ja nicht, weil der Assistent ja bloß sein Portemonnaie vergessen hat. Am liebsten geht er draußen essen, da kann er sich während des Essens eine Zigarette anstecken. Guido bekreuzigt sich vor jedem Essen. Auch im Gasthaus. In Brüssel ist das nicht üblich. Guido glaubt, mir damit ein gutes Beispiel zu geben. Ich halte das für aufdringliches Religionsgebaren. Beim Essen – Guido bestellt immer große Portionen – fuchtelt er mit dem Messer in der Luft herum, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Am Schluss jedes Essens lässt er es sich nicht nehmen, die Schneide des Messers abzulecken, indem er sie komplett in seinen Mund schiebt und dann, dem letzten Tropfen Soße hinterherschmeckend, genüsslich wieder zwischen seinen Lippen hervorzieht. Beim Warten auf Getränke und Speisen und während des Essens und während wir miteinander sprechen, kontrolliert er ununterbrochen die auf seinem Smartphone eingehenden Nachrichten, beantwortet sie oder fügt irgendwelchen Blogs – »Moment, ich muss das hier mal schnell beantworten« – Kommentare hinzu. Er bedauert mich wegen meiner vierzehn Follower, bringt dafür aber auch Verständnis auf: »Hab auch so angefangen, aber das kriegst du irgendwann auch in den Griff. Dann hast du, wie ich, viertausendvierhundertzwölf – nein, warte, viertausendvierhundertdreizehn Follower. Geil, oder?«
Als Erstes bestellt Guido immer ein großes Bier, dann zum Essen Wein. Drei bis vier Gläser sind es immer. Die halten ihn nicht davon ab, mit dem Auto nach Hause zu fahren. Guido kommt immer mit dem Auto, weil er etwas außerhalb wohnt, in Uccle. Da kann er auch, ohne umzusteigen, mit der Tram 92 hinkommen, aber das ist ihm zu kompliziert. Mit – wie üblich – einer Stunde Verspätung kommt er ins Gasthaus. Wenn er mit weniger als einer Stunde Verspätung kommt, erwartet er, von mir gelobt zu werden. Diesmal bekommt er kein Lob. Sein Hemd hat er, wie immer, viel zu weit offen, damit man seine Brustbehaarung sieht. Er hält sie für beeindruckend. Diesmal hat er’s übertrieben. An seinem Hemd hat er nur einen Knopf in Bauchnabelhöhe geschlossen. Ich bitte ihn, weitere Knöpfe zu schließen. »Ach so, kann ich machen«, ist sein Kommentar. Ich bin sicher, er hat zu Hause vor dem Spiegel lange ausprobiert, wie viele Knöpfe er nicht schließen kann, um in der Öffentlichkeit gerade noch so durchzugehen. Darin wird er sich selbst gegenüber immer großzügiger.
Guido ist dafür zuständig, das zu wissen, was sein Chef nicht weiß. Also alles. Er kümmert sich um die Fachthemen. Da kennt er sich zwar auch nicht aus, aber dafür hat er ja sein Netz von Lobbyisten. Guido ist noch nicht so abgebrüht wie sein Chef. Er hat nur einen Zeitvertrag. Er möchte noch Karriere machen. Vorläufig sagt er aber seinem Chef, wo’s langgeht. Im Brüsseler Jargon heißt das, »er erarbeitet Entscheidungsoptionen«. Sein Abgeordneter hält große Stücke auf ihn. Ohne ihn wäre er aufgeschmissen. Wie sollte er sich eine fundierte Meinung zu zweitausend Gesetzesvorlagen pro Jahr zulegen? Gut, es gibt Informationen aus dem eigenen Wahlkreis, Hinweise von Kollegen, Forderungen von Nichtregierungsorganisationen, Stellungnahmen der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Medien, persönliche Recherchen. An erster Stelle verlassen sich Abgeordnete aber auf ihre eigenen Mitarbeiter, die Assis.
Diese Mitarbeiter treffen sich regelmäßig untereinander am Place du Luxembourg, direkt vor dem Europäischen Parlament. Da kann man spätestens ab sechs Uhr abends das Püppchentheater der Assistentinnen und Assistenten erleben. Zur »Happy Hour« geht man da besser nicht hin. Es sei denn, man will »ganz zufällig« eine Assistentin treffen, von der man genau weiß, dass sie jeden Donnerstag von dort aus die Welt rettet. Und prompt steht sie da mit einem Glas eines schwach alkoholischen Getränks zwischen Hunderten ihrer Kolleginnen und Kollegen. Alle tun so, als hätten sie die Fäden der Europapolitik in der Hand. Was sie tatsächlich in der Hand haben, sind ihre jeweiligen Abgeordneten.
»Mein Knilch kann jederzeit anrufen«, fürchtet Guido.
»Oder der Parlamentspräsident. Oder die Kommissionspräsidentin«, frotzele ich.
»Eher nicht«, gibt Guido zu, »aber mein Abgeordneter ruft garantiert an, wenn ich hier auf dem Place Lux schäkere. Irgendwas hat er vergessen. Irgendwas möchte er bis morgen früh noch ausgearbeitet haben. Mache ich dann natürlich.«
Die Assistenten der Abgeordneten sind jung, ehrgeizig, enthusiastisch. Sie sind – außer Guido – korrekt gekleidet. Man könnte sie – außer hier am Place Lux – glatt für Mormonen halten: gut gebügelte Anzüge, sauberer Haarschnitt, dezente Kostüme. Alle Assistenten sind clever und hochintelligent. Sie spekulieren auf eine steile Karriere. In kleinen Gruppen plaudern sie über Gott und die Plätze der Welt, an denen sie schon waren und »Erfahrungen gesammelt« haben. Die meisten waren schon während ihrer Schulzeit ein Jahr im Ausland, die anderen kurz danach. Alle wissen, wer die Assistentin von welchem Abgeordneten ist. Sie wissen, wessen Chefin in welchen Ausschüssen arbeitet. Sie wissen, womit die sich auskennt und – noch wichtiger – womit nicht: »Keine Ahnung, kann ich dir sagen. Keine Ahnung!« Guido erfährt so, dass sein Abgeordneter nicht der größte Schautermann von allen ist. So nennt man in meiner Ruhrgebietsheimat einen Menschen, der mehr scheinen will, als er ist.
Über die aktuellen Vorschläge der EU-Kommission, die Aussprachen in den jeweiligen Ausschüssen, die anstehenden Abstimmungen im Straßburger Plenum redet Guido auf dem Place Lux nicht. Die anderen Assistentinnen und Assistenten auch nicht. Dazu verabreden sie sich für den nächsten Tag. Auf dem Place Lux geht es um das Allerwichtigste. Es geht um die Zukunft Europas, vielleicht sogar um die Weltrettung.
Immer mit »Ja« stimmen ist ganz schön blöd
Jährlich werden von der Europäischen Kommission über zweitausend Entwürfe für neue oder zu ändernde Gesetze ausgearbeitet. Damit müssen die Vertreter im Rat und die Abgeordneten im Parlament erst mal zurechtkommen. Den Abgeordneten will ich sehen, der sich gleichzeitig mit In-vitro-Diagnostik und mit sozialer Sicherheit auskennt! Oder die Abgeordnete, die über Ausfuhrkontrollen genauso viel weiß wie über Einlagensicherung. Versteht eine Abgeordnete viel von Regionalförderung, hat sie sehr wahrscheinlich noch nie etwas von Bauprodukten und Mahnverfahren gehört. Manche haben noch nie etwas von der Liste der Luftfahrtunternehmen vernommen, denen der Betrieb in der EU untersagt ist. Trotzdem müssen sie innerhalb weniger Wochen über Sicherheit im Luftverkehr abstimmen. Sie sollten nicht unbedingt hervorragende, aber doch ganz gute Redner sein. Sie sollten die großen politischen Linien überblicken. Sie sollen sich in Detailfragen zu Finanziellem und Technischem auskennen. Bei sozialen Fragen und im kulturellen Bereich sollen sie wissen, worum es geht. Sie müssen wenigstens die wichtigsten Verfahrenstricks beherrschen. Und ihre Parteifreunde, ihre Gegner, ihre Wähler müssen sie jedes Mal neu überzeugen.
Da haben es die zehntausend Beamten der Europäischen Kommission, die die Vorlagen ausarbeiten, schon besser. Da kann sich einer oder gleich mehrere jahrelang in die Details zu einem einzigen Verordnungsentwurf reinknien. Wenn die Abgeordneten nicht ihre tapferen Assistentinnen und Assistenten hätten, müssten sie sich ganz allein in die dicken Gesetzespakete einarbeiten. Und das auch noch in wenigen Wochen. Dann müssten sie zu einer Meinung kommen. Haben sie eine Meinung? Sind sie etwa für oder gegen die Freigabe von Softwarepatenten? Wer hätte davon Vor-, wer Nachteile? Wenn es zu schwierig wird, können sie sich enthalten. Frustration ist da vorprogrammiert. Kaum, dass mal etwas klappt. Wenn Abgeordnete dann einmal einen Kommissionsvorschlag so richtig schön zerpflückt haben, behauptet garantiert jemand anderes, das hätte er doch super hingekriegt, oder? Erfolgsdiebstahl ist in Brüssel ein beliebtes Hobby.
Deshalb brauchen Abgeordnete Hilfe. Sie wenden sich dazu an Lobbyisten. Von denen bekommen sie prima Argumente. Die meisten haben eine kleine Truppe aufgebaut, nicht bloß aus ihrem, auch aus anderen Ländern. Ihre Assistenten treffen sich sogar mit Assistenten aus anderen Fraktionen. Heimlich. Alle geben ihnen tolle Argumente und filigrane Formulierungen. Lobbykritiker behaupten deshalb, die Parlamentarier liefen Gefahr, zu reinen Vermittlern zu verkommen. Hinter ihnen stünden die Lobbyisten und würden darauf achten, dass sie ihre Wünsche in die Entscheidungsmaschinerie der EU einspeisen. Und das stimmt auch. Die Lobbyisten sehen das aber ganz anders. Und einige Abgeordnete auch: »Die Parlamentarier vermitteln die Wünsche der Interessengruppen in die Entscheidungsmaschinerie der EU. Dafür sind ihnen die Abgeordneten sehr dankbar.« So Karl-Heinz Florenz, der zwanzig Jahre lang Abgeordneter im Europäischen Parlament war. Er bestreitet, dass Abgeordnete eine »leichte Beute für den Lobbyismus sind«. Sie blieben aber »durchaus empfänglich für einfache Botschaften, wenn ein Thema intern noch nicht erschöpfend debattiert wurde«. Martin Schulz, dreiundzwanzig Jahre Abgeordneter im Europäischen Parlament und nach seiner Rückkehr in Deutschland zuerst gefeiert (hundert Prozent Zustimmung seiner Genossen), dann erfolgloser Kanzlerkandidat, war von 2012 bis 2017 Präsident des Europäischen Parlaments. Er fand, Lobbyisten »gehören zum politischen Geschäft dazu und ohne deren Zutun wäre gesetzgeberische Arbeit nur unvollständig leistbar. […] Für eine komplette und ausgewogene nachhaltige Gesetzgebung brauchen wir auch die Politikberatung der Lobbyisten.«
Natürlich wissen alle Abgeordneten, mit wem sie sich da einlassen. Sie schenken mal diesen, mal jenen Lobbyisten mehr Aufmerksamkeit. Wenn sie glauben, den Rat von Lobbyisten nicht nötig zu haben und wenn sie außerdem ein bisschen faul sind, kann es passieren, dass sie, wie es der rumänische Abgeordnete Dan Dumitru Zamfirescu gemacht hat, bei jeder Abstimmung mit Ja stimmen. Abstimmungen bestehen aus Hunderten Einzelabstimmungen. Über 400 Änderungsanträge sind keine Seltenheit. Die Änderungsanträge sind oft widersprüchlich. Da muss man als Abgeordneter sehr gut aufpassen, sonst verliert man seine Glaubwürdigkeit. »Aus der Vorlage soll der Passus ›und andere Betroffene‹ gestrichen werden. Dafür? Dagegen? Enthaltungen?« Zamfirescu stimmt dafür. Die Vorsitzende fährt fort: »In der Vorlage soll der Passus ›und andere Betroffene‹ beibehalten werden. Dafür? Dagegen? Enthaltungen?« Zamfirescu stimmt dafür. Die Vorsitzende fragt ihren Assistenten, wieso diese beiden Änderungsanträge vom Sekretariat überhaupt zugelassen wurden. Der Assistent zuckt mit den Schultern. Die Vorsitzende hat zufällig das Abstimmungsverhalten des Abgeordneten Zamfirescu bemerkt. »Ist es richtig, Herr Abgeordneter Zamfirescu, dass Sie für Änderungsantrag 324 a und für Änderungsantrag 324 b gestimmt haben?« Der Abgeordnete nickt unschuldig. »Ist Ihnen, Herr Abgeordneter Zamfirescu, eigentlich klar, was wir hier machen?« Nach einer kurzen Pause, in der dem Abgeordneten diese Frage auf Rumänisch vorgetragen wird, nickt der. Die Vorsitzende verdreht die Augen, atmet tief durch und stellt Änderungsantrag 325 zur Abstimmung.
Der Abgeordnete Zamfirescu saß von 2013 bis 2014 im Europäischen Parlament. Was dieses Parlament macht, schien ihm weitgehend egal zu sein. Er vertraute offensichtlich darauf, dass sein seltsames Abstimmungsverhalten in Rumänien nicht auffiel. Anders der deutsche Abgeordnete Martin Sonneborn, Mitglied des EU-Parlaments seit 2014. Er hatte sich vorgenommen, bei Abstimmungen einmal mit Ja, einmal mit Nein abzustimmen. Ein netter Scherz. Schon nach wenigen Monaten musste er aber einsehen: Das geht gar nicht, wenn er nicht großen politischen Schaden anrichten will. Seitdem richtet er mit gezielten witzigen Anfragen großen politischen Nutzen an.
Abgeordnete des Europäischen Parlaments werden nicht bei den Konsultationen der Europäischen Kommission befragt. Die nationalen Regierungen werden das aber sehr wohl und auch Vertreter aller europäischen Dachverbände. Abgeordnete sind deshalb immer einen Schritt hinterher. Auch deshalb pflegen sie einen guten Kontakt zu Lobbyisten. Die berichten ihnen, was die Europäische Kommission im Schilde führt. Sie wissen dadurch, was als Nächstes auf sie zukommt. Sie können Allianzen schmieden und wissen, wo Verhandlungsmasse entstehen könnte. Paul Rübig, wie Martin Schulz dreiundzwanzig Jahre lang Abgeordneter im Europäischen Parlament, drückte es so aus: »Wir sind nicht bloß Adressaten von Lobbyisten. Wir bringen auch unsere eigenen Lobbyisten in Stellung.« Ein deutscher Abgeordneter, der nicht genannt werden möchte, findet es dagegen schon belastend, dass er von der Parlamentscafeteria nicht zum Eingangsbereich kommen kann, ohne Lobbyisten zu sehen. Meine Güte! Wie empfindlich muss man eigentlich sein, um schon den Anblick von Lobbyisten als Belastung zu empfinden?
Eine wichtige Arbeit von Abgeordneten ist es, ihre Wähler über ihre Arbeit zu informieren. Das machen sie vorwiegend über ihre Website und über soziale Netze. Damit sprechen sie keine Massen an, wohl aber wichtige Zielgruppen. Von der Presse werden die Internetseiten von Abgeordneten kaum genutzt. Auf den Seiten findet man vor allem Redebeiträge und Anfragen. Sie werden dort als Arbeitsbeweise aufgeführt und sind deshalb vorwiegend eine Art Rechenschaftsbericht über die in Brüssel geleistete Arbeit. Eine sehr transparente Arbeit.
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