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Ludger Fischer Spot(t) auf Brüssel
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Etwas bekannter als Frits Bolkestein war José Manuel Barroso. Vielleicht wissen Sie ja noch, wer das war. Barroso war immerhin über zwei Amtsperioden von 2004 bis 2014 Kommissionspräsident. 2002 war er noch Premierminister von Portugal. Damals hatte er noch ein sehr eigenwilliges Bild von der EU: »Stellen Sie sich ein großes Flugzeug vor. Sie gehen ins Cockpit, und niemand sitzt an den Instrumenten.« Stellen Sie sich einen mächtigen Staatenbund vor! Die Ministerpräsidenten müssen dessen Geschicke lenken. Barroso hätte als Premierminister Portugals in diesem »Cockpit« sitzen müssen! Schon zwei Jahre später, als Kommissionspräsident, sah er das natürlich ganz anders. Kritiker der EU sprechen, wie diese ahnungslosen Politiker, von einem bürokratischen Ungetüm, einer Machtmaschinerie, dem Raumschiff Brüssel, dem erwähnten Brüsseler Wasserkopf. Sie wissen wahrscheinlich selbst nicht, was sie damit meinen. Wenn eine übergeordnete Institution Gesetze in siebenundzwanzig Mitgliedsstaaten abschafft und durch ein einziges europäisches Gesetz ersetzt, dann handelt sie doch extrem antibürokratisch. So sehe ich das!
Hier noch zwei missglückte Metaphern: Die Kommission wird auch als »Hüterin der Europäischen Verträge« bezeichnet. Müssen Verträge gehütet werden wie Schafe? Andere nennen sie einen »Motor der Verträge«. Verträge und Gesetze müssen aber einfach eingehalten werden. Wenn nicht, werden sie verletzt oder gebrochen. So einfach ist das. Und das wird für die Staaten, die sie nicht einhalten, teuer. Sehr teuer. Da werden schon mal einige Millionen an Strafzahlungen fällig. Täglich.
Der Kommissionsbeamte,
der lieber Pornodarsteller wäre
Riccardo ist Beamter bei der Europäischen Kommission. Dass man ihn als Eurokraten bezeichnet, ist ihm egal. Schlimmer für ihn: sein Job befriedigt ihn nicht. Er wäre lieber Pornodarsteller. Das mit dem Pornodarsteller stellt er sich ganz leicht vor. Er glaubt, mit ausreichender Geilheit und einigermaßen gestähltem Körper – na ja, darüber lächelt er selbst – müsste das doch zu schaffen sein. Und entsprechendes Anschauungsmaterial habe er sich in den letzten Jahren ja ausreichend … also, das sei doch ganz natürlich und … na ja, das würde doch jeder … Er sei kein Spezialist, aber das traue er sich schon zu.
Er habe sich schon mal informiert, was da für Anforderungen gestellt werden, abgesehen von der normalen Missionarsstellung. Da gebe es die Positio aversa in Bauch- und Knielage, die Sitzhaltung in Cuissade und Croupade. »Die Positio obversa«, doziert Riccardo, »ist in Beugelage, Reithaltung und Strecklage schon fast Standard, genau wie die walchersche Hängelage.« Ich bin beeindruckt von seinem Fachwissen. Beim Tantra, vis-à-vis sitzend und seitlich, werde es für ihn wahrscheinlich etwas schwieriger, weil er doch diese Sache mit dem Rücken habe. Ich tue, als hätte ich das alles verstanden und als sei dieses Sexchinesisch für mich die natürlichste Sache der Welt. Es erinnert mich an einen Pennälerwitz, den wir zu machen pflegten, bevor wir die Freuden der geschlechtlichen Liebe selbst kennengelernt haben. Wir behaupteten, unsere liebste Sextechnik sei die, auf dem Kopf zu stehen und dabei mit den Füßen eine Lotusblüte zu formen. Darüber konnten wir uns als Pennäler köstlich amüsieren.
Zur Not, meint Riccardo, gebe es da ja auch Mittel. Nicht, dass er das nötig hätte, aber man wisse ja nie. »Und wenn die Kolleginnen dann auch mitziehen, also bei den Aufnahmen da, dann ist das sicher auch ganz nett, und vielleicht könnte sich daraus ja auch eine echte Freundschaft entwickeln oder mehrere. Wenn man mit den Damen schon so intim umgegangen ist, wäre das doch nur allzu natürlich, oder nicht?«
Riccardo hat nicht viele Freunde. Schon gar keine echten. Die Leute, die er kennt, wollen alle was von ihm, das weiß er ganz genau. Und die alten Freunde seiner Jugend in Rom, die verstehen gar nicht, was er hier in Brüssel macht. Aus eigener Erfahrung kann ich ihm zum Thema Pornodarsteller sagen: »Keine Ahnung!« Ich habe allerdings auch keine Ahnung, was an einem Job als Kommissionsbeamter so freudlos und unbefriedigend sein könnte, dass man oder frau eine Tätigkeit in der Pornobranche vorziehen würde. Die Jammerlappentour will ich ihm einfach nicht durchgehen lassen. Ich überreiche ihm ein Mitleidskärtchen. Diese Kärtchen habe ich mir selbst gemacht. Für Notfälle. Meine Mitleidskärtchen sind so groß wie ein Visitenkärtchen. Es steht aber was völlig anderes drauf, nämlich: »Ich habe selten einen Menschen getroffen, den das Leben so beutelt wie Sie. Bitte betrachten Sie diese Karte als Ausdruck meines tief empfundenen Mitleids.«
Riccardo macht damit genau das, was ich erwartet habe. Er zerreißt das Kärtchen, nennt mich ein herzloses Arschloch, berichtet dann aber ausführlich, warum die Arbeit in der Europäischen Kommission so frustrierend sei. Das Schlimmste sei das Pochen der Mitgliedsstaaten auf Subsidiarität. Damit kämen die Mitgliedsstaaten andauernd an, auch wenn sie genau wüssten, dass die Entscheidungsbefugnis bei einem Thema eben nicht bei den Nationalstaaten liege, sondern auf europäischer Ebene. Dabei hätten die Einzelstaaten mit guten Gründen dafür gesorgt – »bewusst und mit klaren Absichten, das sage ich dir!« –, die entsprechenden Kompetenzen auf die EU zu übertragen. Im Deutschen sei das auch ganz klar: »Subsidiarität« heiße die Verantwortlichkeit auf der jeweiligen politischen Ebene. Im Französischen, aber auch in seinem Land, erklärt mir Riccardo, verstehe man darunter Hilfsgelder oder Zuschüsse, eben Subsidien.
Andererseits seien es gerade regionale Politiker, die eine europäische Regelung anstrebten, um für die teilweise schmerzhaften Regelungen jemanden in Brüssel verantwortlich machen zu können. Die Kommission, sagt er, »è diventata il capro espiatorio«.
Ich muss nachfragen: »Der Capro was?«
»Espiatorio«, erklärt Riccardo, »der Bocksünder.«
»Der Sündenbock?«
»Genau! Der Schwarzpeter!«
»Der Schwarze Peter?«
»Genau!«
»Aber man kann doch nicht alle Kommissionsbeamten über einen Kamm scheren.«
»Genau«, bestätigt mir Riccardo, »wir sind doch nicht alle aus demselben Kamm geschnitzt.«
Ich geb’s auf, dem Italiener deutsche Redensarten beizubringen. Riccardo nennt mir für eine angebliche Überregulierung vorsichtshalber kein Beispiel aus seinem Land, sondern eines aus Deutschland. »Pass mal auf: Du kennst doch die Badewasserrichtlinie.« Ich kenne die Badewasserrichtlinie nicht. Mir schwant Schlimmes. Die Qualität des Wassers in meiner Badewanne wird zumindest nach meinem Aufenthalt darin nicht mehr ganz astrein sein. Das sage ich Riccardo natürlich nicht und tue gut daran. Es geht nämlich tatsächlich um die Badegewässerrichtlinie! Da hätte ich mich mal wieder schön blamiert. Dazu gibt mir Riccardo zum Glück keine Zeit: »Natürlich könnte die bayerische Staatsregierung in ihrer Weisheit auch ohne himmlische Eingebung festlegen, ob die Wasserqualität der Isar ausreicht, um darin zu baden.«
Ah, denke ich, darum geht’s, und sage: »Wenn der Dienstmann Alois die himmlische Botschaft nicht mal wieder verschlampt.«
»Wer?«, stutzt Riccardo. »Ein Alois hat bei uns nicht mitgearbeitet. Die europäische Richtlinie über die Qualität von Badegewässern gibt der bayerischen Regierung jedenfalls die Möglichkeit, die angeblich anonymen Strukturen in Brüssel für ihr Badewasser verantwortlich zu machen.« Riccardo erzählt mir dann noch, dass die deutsche und auch die bayerische Regierung aktiv an der Badegewässerrichtlinie mitgearbeitet hätten. Das würden die bloß nicht in jedem Bierzelt erwähnen. Da müssten stattdessen wieder die Bekloppten von Brüssel mit ihrer angeblichen Regelungswut den Kopf hinhalten. »Immerhin«, triumphiert er, »infizieren sich jetzt auch in Bayern weniger Menschen mit Kolibakterien. Das ist doch wohl eine einheitliche Regelung wert. Findste nich?« Die Badegewässerrichtlinie war Riccardos Hauptarbeitsfeld über drei Jahre. Und er habe sie durchgeboxt. Er!
Dasselbe gelte für Brandschutzregelungen: »Die gelten in dänischen Dörfern genauso wie in spanischen Städten.« Riccardo hat einen Hang zum Stabreim. Mit den Brandschutzregelungen habe seine Kollegin Gill vier Lebensjahre verbracht. Immer wieder müsse sie sich anhören, das sei überreguliert. Da rastet der sonst sehr beherrschte Kommissionsbeamte Riccardo richtig aus: »Überreguliert, überreguliert, überreguliert! Wenn ich das schon höre!« Beim nächsten Discobrand würde er den Hinterbliebenen gerne sagen, die Europäische Kommission habe da nichts überregulieren wollen. »Verstehst du jetzt, was ich meine, Ludger? Da werde ich doch lieber Pornodarsteller. Da ist wenigstens nichts überreguliert. Ich hab’s so satt!«
Wenn er da mal nur … also, ich kenne mich da ja nicht so aus … aber so ganz ohne Regeln geht’s da doch sicher auch nicht zu. Oder?
Ist der Europäische Rat der Europarat
oder der Rat der Europäischen Union?
Es ist ganz einfach: Der Europarat ist nicht der Europäische Rat. Er ist aber auch nicht der Rat der Europäischen Union. Der Europarat ist ein Debattierclub, dessen Mitglieder glauben, sie könnten Politik beeinflussen. Kurz nach dem Krieg, 1948, betrieb ein gewisses »American Committee for a United Europe« die Gründung des Europarats, um – aufgepasst! – eine europäische Integration gegen den Ostblock zu betreiben. In den USA hielt man es für sinnvoll, den Krieg kalt weiterzuführen. Eiskalt. Die Geheimdienste OSS (Office of Strategic Services, zu Deutsch etwa »Amt für strategische Dienste«) und CIA (Central Intelligence Agency, der Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten) gründeten das erwähnte Komitee und dieses gründete den Europarat. Die Grundlage für das Genre der Spionagegeschichten und -filme war gelegt: Der Schakal, Der Spion, der aus der Kälte kam, Die Nadel sowie sämtliche Stories um einen gewissen James Bond haben hier ihre Quelle. Die Quelle sprudelt bis heute.
Aus den Stories lernen wir: Spione kümmern sich vorwiegend um sich selbst. Genau wie der Europarat. Darüber hinaus setzt er sich für Menschenrechte ein. Und für Demokratie. Und für Rechtsstaatlichkeit. Das ist alles sehr ehrenhaft. Sein Medium sind politische Appelle und Absichtserklärungen. Das ist alles sehr wirkungslos. Der Europarat ist formal und ideell nicht mit dem Europäischen Rat, nicht mit der Europäischen Kommission und nicht mit dem Europäischen Parlament verknüpft. Deshalb ist seine Arbeit so wirkungslos. Die Mitgliedsstaaten unterhalten trotzdem für diesen Europarat in Straßburg einen Europapalast. Das ist ein riesiges Gebäude mit einem riesigen Plenarsaal. In diesem Palast führt der Europarat Debatten, die niemanden interessieren und die völlig irrelevant sind. Haben Sie schon mal was von den Beschlüssen des Europarats gehört? Eben. Der Plenarsaal steht direkt gegenüber dem Plenarsaal des Europäischen Parlaments. Die beiden Säle können nicht gleichzeitig benutzt werden. Die Infrastruktur des kleinen Städtchens Straßburg lässt das nicht zu. Es gibt einfach nicht genug Unterbringungsmöglichkeiten für die Delegierten und die Assistenten beider Institutionen.
Warum schafft man diesen teuren und völlig nutzlosen Europarat nicht einfach ab? Dagegen spricht, dass die darin debattierenden alten Männer anderswo Schaden anrichten könnten. Ein Kenner des Europarats sagte mir: »Man sollte sie dort reden lassen, sonst gehen sie zu Hause ihren Frauen auf den Wecker.« Der Europarat hat derzeit 47 Mitgliedsländer, darunter Georgien, Armenien, Aserbaidschan, obwohl die nur zum Teil oder gar nicht in Europa liegen. Beobachterstatus haben unter anderem Israel, Kanada und Mexiko. Der Europarat hat schon 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention ausgearbeitet. Einzelne Länder haben dieses Papier seitdem anerkannt, die EU als ganze nicht. Deutschland hatte bis Mai 2021 für ein halbes Jahr den Vorsitz im Europarat. Ist davon etwas nach Deutschland durchgesickert? Im März 2014 überfiel das Europaratsmitglied Russland die Halbinsel Krim, bis dahin ein Teil der Ukraine, ebenfalls Europaratsmitglied. Die Halbinsel wurde dem Staat Russland angegliedert. Russland befand als Aggressor mit über die Einsetzung von Beobachtungsmissionen in der Ukraine. Das macht die Arbeit dieser Institution nicht unbedingt glaubwürdiger. Seit der Besetzung der Krim ist der Europarat praktisch gelähmt.
In Brüssel spricht man vom »Rat« nicht, wenn man den Europarat meint, sondern den Europäischen Rat, das Organ der Staats- und Regierungschefs (und nur der Chefs!). Um das Verwirrspiel komplett zu machen: Eher noch meint man damit den Rat der Europäischen Union. In diesem Rat treffen sich die Vertreter der jeweiligen nationalen Fachministerien. Parallel zum Parlament beraten sie die Gesetzesvorlagen der Europäischen Kommission und beschließen die entsprechenden Verordnungen und Richtlinien. Die nationalen Vertreter im Rat werden, anders als die Abgeordneten des Parlaments, nicht gewählt. Sie werden von ihren nationalen Regierungen in die Ratsverhandlungen geschickt. Damit sind auch sie – wenn auch nur mittelbar – demokratisch legitimiert.
Kleinere Mitgliedsstaaten werden in der Europapolitik bevorzugt. Die großen verzichten im Gegenzug auf einen Teil ihres Stimmgewichts. So leben in Deutschland etwa 18,6 Prozent der europäischen Bevölkerung. Bei Abstimmungen im Rat hat Deutschland aber bloß 29 Stimmen und damit ein Stimmgewicht von 8,4 Prozent. Österreich dagegen hat nur knapp 2 Prozent der EU-Bevölkerung. Mit 10 Stimmen im Rat hat es aber deutlich mehr als ein Zehntel des deutschen Stimmgewichts, nämlich 2,9 Prozent. Damit zählt jede österreichische Stimme dreimal mehr als eine deutsche. Es gibt aber noch unverhältnismäßigere Stimmgewichtungen: Slowenien hat 0,47 % der EU-Bevölkerung, Lettland 0,43 %, Estland 0,3 %, Zypern 0,2 %. Jedes dieser Länder hat aber 4 Stimmen im Rat der Europäischen Union. Mit 0,14 % der EU-Einwohner und ebenfalls 4 Stimmen im Rat schießt Luxemburg den Vogel ab. Verglichen etwa mit Deutschland zählt jede Stimme aus Luxemburg mehr als zehnmal so viel. Genau wie Deutschland, Frankreich und Italien stellt auch Luxemburg einen Kommissar. Deren Einflussmöglichkeiten für ihr Land sind allerdings unerheblich.
Zum Nutzen aller und zur Förderung der europäischen Integration wäre es nötig, dass die Mitgliedsstaaten mehr und mehr von ihrer Souveränität abgeben. Dazu müsste der Rat der Europäischen Union weniger, das beinahe-übernationale Parlament mehr Kompetenzen erhalten. Es sieht aber nicht so aus, als würden viele Europäer mit Begeisterung diesen notwendigen Schritt machen wollen. Bis sie den Nutzen erkennen, wird noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden müssen.
Die Ratsarbeitsgruppen setzen sich aus den Experten der nationalen Regierungen zusammen. Die Experten haben keinerlei Entscheidungsbefugnisse. Sie sind so weisungsgebunden wie ein Spiegelbild. Das ist nicht immer sinnvoll, in den Expertengruppen nicht und auch nicht im AStV, dem Ausschuss der Ständigen Vertreter, also der Botschafter. Jochen Grünhage, der als stellvertretender Botschafter von 1987 bis 2001 Deutschland im AStV vertrat, fand die Weisungen der deutschen Regierung nicht immer sinnvoll. Eine lautete: »Vorschlag der Kommission ist abzulehnen, da er nicht dem geltenden deutschen Recht entspricht.«
»Ja«, dachte er sich, »aber um dieses Recht zu ändern, sind wir doch hier. Wir sind doch keine Marionetten! Sehen Sie hier irgendwelche Fäden?« Gesagt hat er dann aber, was ihm befohlen wurde. Die Journalisten Cerstin Gammelin und Raimund Löw nennen die nationalen Regierungen deshalb Drahtzieher beziehungsweise Strippenzieher Europas. Ja logisch! Letztlich entscheiden in Brüssel also die dorthin entsandten nationalen Beamten aus Paris, Berlin, Rom. Manchmal entscheiden auch die Minister und ganz manchmal auch die Regierungschefs. Die heißen dann aber nicht mehr »Rat der Europäischen Union«, sondern »Europäischer Rat«.
Wenn die Minister und die Staatschefs keine einstimmige Entscheidung erreichen können, enthält sich der Vertreter des unterlegenen Staats. Er oder sie tut dann beleidigt, wird überstimmt und ermöglicht eine europäische Lösung. Zu Hause können die Unterlegenen, die sich tatsächlich enthalten haben, behaupten, sie hätten sich bis zuletzt gegen eine entsprechende Verordnung gestemmt. Mit ihrer Enthaltung zeigen sie gewissermaßen schon Haltung. Im Europäischen Rat und auch im Rat der Europäischen Union finden vorwiegend nationale Interessen Berücksichtigung. Das kann nur seltsam finden, wer nicht bedenkt, dass diese Gremien eben dem Austausch nationaler Interessen dienen sollen.
Der Rat der Europäischen Union hat aber, genau wie das gesamte Europäische Parlament – bitte nicht weitersagen –, weniger Einfluss auf die Gesetzgebung als die Arbeitsgruppen der Europäischen Kommission. Gesetze werden dort besprochen und beschlossen, vorgeschlagen werden sie von der Kommission. Einzelne Mitarbeiter der EU-Kommission bereiten sie vor. Sie sind die wichtigsten Akteure der Gesetzesfabrik Brüssel. Bitte sagen Sie das nicht den Ratsvertretern und auch nicht den Abgeordneten im Europäischen Parlament!
Martin Schulz, von 2012 bis 2017 Präsident des Europäischen Parlaments, sah das ganz anders. Er hielt das Parlament für die »tonangebende, meinungsführende und richtungsweisende politische Institution«. Im tonangebenden, meinungsführenden und richtungsweisenden Rat der Europäischen Union sah man das wiederum ganz anders. Martin Bauer, selbst Mitglied im Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV), hielt genau diesen Ausschuss für »zweifellos eines der einflussreichsten Gremien im institutionellen Gefüge der Europäischen Union«.
Überhaupt keinen Einfluss haben Rat und Parlament aber auf delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte. Das heißt: Bei 85 Prozent aller Gesetze auf EU-Ebene hat die Kommission freie Hand! Was in den Arbeitsgruppen des Komitologieverfahrens passiert, darüber müssen Rat und Parlament bloß informiert werden. Das ist seit 2009 so. Alle damaligen EU-Staaten haben dem im Vertrag von Lissabon zugestimmt. Es war eine kaum beachtete, an eine Ermächtigung heranreichende Stärkung der Macht der Europäischen Kommission. Seitdem, das kann man wirklich so sehen, ist »Europas Macht in unbekannten Händen«. Tatsächlich ist das institutionelle Machtgleichgewicht der EU seitdem aus den Fugen geraten.
Der Ratsbeamte, der seinen Europafrust
in Alkohol ertränkt und nebenbei
die »Einheitliche Europäische Akte« erklärt
Als Kenner der Europapolitik kennen Sie bestimmt das Cassis-de-Dijon-Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Sie kennen es nicht? Dann fasse ich das hier mal zusammen: Cassis de Dijon ist ein Johannisbeerlikör. Wenn Sie schon das Urteil nicht kennen, dann wissen Sie aber, dass Crème de Cassis nicht einfach »getrunken«, sondern in den Crémant oder in den Schampus gekippt wird, damit das affige Getränk »Kir Royal« entsteht, in Deutschland bekannt vor allem durch die nach ihm benannte Fernsehserie von Helmut Dietl. Am Cassis-de-Dijon-Urteil können Europakritiker noch immer keinen Geschmack finden. »Völliger Wahn. Kind im Brunnen. Der Super-GAU.« So jammert mir der Ratsbeamte Gordon die Schulter nass. Ich merke, dass er noch etwas schimpfen will, und helfe ihm deshalb aus mit »Armageddon, Verhängnis, Waterloo«. Letzteres natürlich in belgischer, nicht in der ABBA-Aussprache.
»Geeenau!«, bestätigt Gordon. Er hält das Urteil für den Sündenfall des Europarechts überhaupt. Sein Whiskyglas hat Gordon sich schon zum dritten Mal füllen lassen. Langsam wirkt der Schnaps. »Deutscher Whisky, dassissn prima Matteral. Dassis Schnaps, nich son Cassis-Quatsch!« Obwohl er schon etwas lallt, schafft es Gordon, mir den Kern seines Grolls zu erklären. »Eurääischer Grichsff.«
Ich frage nach: »Europäischer Gerichtshof?«
»Geeenau!« Gordons Kopf fällt nach vorne, pendelt etwas, dann reißt er ihn wieder hoch. Das Urteil, bekomme ich so gerade noch aus ihm raus, sei schon 1979 gefällt worden. Danach sei Europa nicht mehr das alte Europa gewesen. Ich frage mich – und vorsichtshalber nicht ihn –, was Gordon für »das alte Europa« hält. »Danach hammsich alle auf diessess Urteil berufen, alleallealle«, und es dann auch noch, »wannwardasnoch?«, 1987 als Grundlage für den europäischen Binnenmarkt verwendet. »Einheilicheeuräischeakte.« Was Gordon meint, aber in seinem Zustand nicht mehr so richtig aussprechen kann, ist die »Einheitliche Europäische Akte«.
Diese sogenannte Akte ist die Grundlage des EU-Wirtschaftsrechts. Darin sind die vier Grundfreiheiten der EU festgelegt, die damals noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, EWG, hieß: die Freiheit des Warenhandels, die Freiheit der Dienstleistungserbringung, die Freiheit des Kapitalverkehrs und die Freiheit der Niederlassung von Unternehmen. Es ist das große Versprechen der Mitgliedsstaaten, allen anderen Mitgliedsstaaten prinzipiell zu vertrauen: Was in einem Land zugelassen ist, darf automatisch auch in jedem anderen Land verkauft oder angeboten werden. Was Gordon daran besonders missfällt: »Dass giltttauch, wenn da ma in eim Land ganzandere Regeln gelten.« Was Gordon nicht versteht oder nicht verstehen will: Genau darum geht es ja! Der französische Johannisbeerlikör Crème de Cassis hatte nur den Anlass dazu gegeben.
Und so ist es dazu gekommen: Deutsche Gerichte fanden, dass Crème de Cassis einfach zu wenig Alkohol, nämlich durchschnittlich fünfzehn bis zwanzig Prozent enthielt. Ich verstehe, als Gordon mir das erklärt, das Problem nicht. Liegt’s an mir oder an Gordons Aussprache? »Dann trinkt man einfach mehr«, versuche ich ihn zu beruhigen.
Gordon bürstet mich ab: »Quatsch! Darumgehtassochanich!«
»Und worum geht’s?«
»Ssssgehtum die Bummsmonopolverwltg fr Brannwein.«
»Die Monopolverwaltung für was?«
Ich habe dann mal schnell recherchiert, worum es gehen könnte: »Ahh, du meinst die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein!«
»Sachichdoch!«
»Was es alles gibt!«
Gordon korrigiert mich: »Gab, nich gibbt. Die saßen in Offebach. Abba nur bis 2018. Dann hammse die liquidirisiert.«
»Liquidiert? Klingt gut für eine Branntweinverwaltung.«
»Aufgelös wegen nichmehrnötig.«
»Vielleicht besser so.«
Deutsche Liköre, finde ich noch heraus, mussten damals, 1979, mindestens fünfundzwanzig Prozent Alkohol enthalten. Der Europäische Gerichtshof meinte jedoch, für die deutsche Mindestalkoholanforderung gebe es keine »zwingenden Erfordernisse«. Deshalb verbot er das Importverbot. Statt auf politischem war damit auf juristischem Weg die Warenverkehrsfreiheit in Europa eingeführt worden. In Brüssel war das gar nicht aufgefallen. Kommission und Rat und Parlament hatten diese Klage gar nicht auf dem Schirm. Wahrscheinlich ist Gordon deshalb so fuchtig: »Völliger Irrsn! Gibtoch von da an keine Sowwenäninät mehr«, lallt er noch einmal, bevor er seinen Thekenschlaf einleitet: Augen halb geschlossen, Ohren auf Durchzug, im Kopf ein präzises »Brnftnf«. Sein deutscher Whisky enthält deutlich mehr Alkohol als siebenunddreißigeinhalb Prozent. Die nämlich sind bei Spirituosen – warum auch immer – als Mindestalkoholgehalt vorgeschrieben. Ich reime mir zusammen, dass er mit seinem letzten artikulierten Wort die nationalstaatliche Souveränität meint, ein Lieblingsthema von Ratsbeamten.
Ich kann ihn zum Glück nicht mehr danach fragen, was er davon hält, dass die Engländer jetzt wieder ihre volle nationalstaatliche Souveränität genießen, verbunden natürlich mit unermesslichen Schäden für Wirtschaft, Kultur und Soziales. Gordon hätte, wenn er nicht so besoffen wäre, irgendwelche Pseudoargumente vorgetragen oder sein beliebtes »Kinkerlitzchen« gelallt. Habe ich schon erwähnt, dass Gordon sich, obwohl Beamter im Sekretariat des Europäischen Rats, ausdrücklich als Antieuropäer versteht? Er hat gut reden. Er sitzt im Getriebe der Gesetzesmaschine. Er kann über das vereinte Europa so viel meckern, wie er Lust hat. Als er in Brüssel anfing, hat er noch einen Lobgesang auf die EU angestimmt. Als Ratsbeamter hat Gordon schnell seine Begeisterung für die EU verloren. Und den Überblick über seinen Alkoholkonsum.
Europa-Abgeordnete sind nicht berühmt
Małgorzata kommt aus Polen. In Brüssel steht sie nicht im Licht der Fernsehscheinwerfer. Das böse Wort, das in Brüssel niemand ausspricht, heißt Hinterbänklerin. Fast alle siebenhundertundfünf Abgeordneten im Europäischen Parlament sind Hinterbänkler. Sie leisten brav ihre Arbeit und ernten dafür keinen Ruhm. In Brüssel möchte Małgorzata nicht mehr wie bei ihr zu Hause Małgosia genannt werden. Zum Glück weiß hier keiner, dass sie in ihrer Woiwodschaft Gosia genannt wurde. Da war sie bekannt, fast berühmt. Jetzt ist sie »MEP«, Mitglied des Europäischen Parlaments! Da hält sie diese Koseform ihres Namens nicht für angemessen. Bekannt ist sie nicht mehr, geschweige denn berühmt. Sie fände es aber angenehm, wenn sie für ihre Arbeit wenigstens ab und zu mal gelobt würde. Bloß: Von wem? Kolleginnen gibt es keine und beim Wort »Parteifreunde« gerät Małgorzata in Panik. Seit sie aus Poznań weg ist, will da auch niemand mehr etwas von ihr wissen. Für die ist sie jetzt eine, die sich in Brüssel die Taschen vollmacht. Keine von uns mehr. Die Deutschen nennen ihre Heimatstatt dreist weiterhin Posen. Ihren Familiennamen kann in Brüssel keiner richtig aussprechen. Die meisten fragen, ob sie nun Kamiński oder Kamińska heiße. Die kapieren’s nie. Sie sieht sich die Vorlagen der Europäischen Kommission ganz genau an. In ehrlichen Minuten gibt sie zu, dass sie ihre Assistentin diesen ganzen Quatsch lesen lässt. Irgendwas findet die immer, was verbessert werden müsste. Die Kommissionsbeamten verachten Małgorzata deshalb. »Dabei sind das bloß Beamte«, sagt Małgorzata, und sie, Kamińska, ist Gesetzgeberin, jedenfalls zu einem siebenhundertundfünften Teil.