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Helmut Ecklkofer 1 PUNKT

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Ihr digitales Spiegelbild ist wunderschön. Makellos sitzt Kira da in einem lila Seidenkleid, die fast gläsern wirkenden Beine, die fragilen Arme, das schmale Gesicht, die pistazienfarbenen Augen, alles scheint perfekt. Nur ihre Seele schreit nach Liebe, nach Sex, nach dem gewissen Kick. Sie wendet ihren Blick ab vom leuchtenden Bildschirm, der wie eine altertümliche Höhensonne sein blaues fahles Licht auf ihre purpurroten Lippen wirft, die dadurch noch sinnlicher wirken. Das elektronische Summen des Computers ist das einzige Geräusch, das sie noch wahrnimmt. Ja, nein, vielleicht. Der weiße Tod wartet hinter der imaginären Leinwand. Sie spricht von einem anderen Ich. Ihre eigene Welt erscheint ihr plötzlich so fremd. Sie weckt ihre eigenen Dämonen. Ihr Geist hungert. Kira lächelt in die Kamera. Ein sinnlicher Blick, eine immer wieder einstudierte Pose. Ein kurzer Datencheck. Den Porträtmodus aktiviert. Alles scheint perfekt. Das Selfie gibt ihr Kraft zurück. Wie schön, einmal Dornröschen zu sein. Eine Armee von Schmetterlingen zieht los. Beflügelt von der Phantasie des Windes.

GREENPEACE

ES GIBT GENUG RAUM FÜR TRÄUME

Klick. Das Foto ist fertig. Die Szene ist für immer festgehalten, eingefroren, die Welt für einen kurzen Augenblick angehalten. Das satte Grün der Blumenwiese, die schneeweiße Tischdecke, der festlich gedeckte Tisch mit der üppigen Dekoration, die Ornamente, die Symmetrie der Gegenstände, die wie ein Heer von Soldaten in einer Reihe akkurat verteilt über die Fläche aufgereiht dastehen. Links daneben der alte Baum mit der großen Schaukel. Ein kleines Mädchen mit einem farbenfrohen Kleid, auf dem winzige Blüten aufgedruckt sind, schaukelt gedankenversunken auf und ab. Das Lachen der fröhlichen Menschen ist schon von weitem zu hören. War das eine imaginäre oder eine reale Welt. Es gibt scheinbar keine Trennlinie, keine Abgrenzung zwischen Schwerelosigkeit und Schwerkraft. Die Kulisse funktioniert, weil irgendjemand ihr eine Seele gegeben hat, eine Bedeutung, eine Existenz. Es gibt genug Raum für Träume und die ungeliebte Wirklichkeit. Und doch lockt das Schauspiel meine Neugier. Ich sitze da, als stiller Beobachter, und sehe, wie die Avatare ihre Gesichter tauschen. Plötzlich hatte die Welt andere Farben, andere Töne, andere Gerüche. Ich schlage das Buch der Phantasie auf, blättere und suche nach der einen Stelle. Und da ist sie. Es war also doch kein Märchen, keine Einbildung. Ich schließe die Augen und die Bilder holen mich ein, das Gestern wird aufgelöst, nur winzige Bruchteile bleiben mir im Gedächtnis. Und doch wäre ich gerne einer der Gäste an der reich gedeckten Tafel. Würde gerne meine Lachmuskeln spüren. Mein Herz hatte die gewisse Freiheit. Jeder Dialog ein kleines Geschenk. Akustische Muster dringen an mein Ohr. Ich bin wie ein Dolmetscher, der seine eigenen Worte übersetzt. Wie ein Maler, der sein Bild immer und immer wieder übermalt. Ein Zauberer, der sich selbst verzaubert. Ein BauMeister, der seine eigenen Luftschlösser baut. Es scheint nicht gut genug zu sein. Nicht perfekt genug. Die Farben strahlen noch nicht, der Ausdruck ist fahl. Ich zappe in der Vielfalt der Kanäle hin und her, auf und ab, rechts und links. Und dann entdecke ich die weiße Leinwand, die so rein und unberührt, so klar das Nichts widerspiegelt. Ich achte auf jedes noch so kleine Detail, das völlig unerheblich sein mag, und forme daraus meine Welt. Ich improvisiere mit Sehnsüchten, mit Affronts, mit Gefühlen, mit mir selbst.

SHADOW

ER BEFINDET SICH IN EINEM LICHTTUNNEL

Schallwellen verirren sich im Raum. Schatten verzieren die kahlen Wände. Mike Oldfields Hit „Shadow On The Wall“ erklingt digital, akkurat, remastered, perfekter als das Original. Erinnerungen legen sich wie Schatten über Leon. Die Töne treffen auf, heben ab, ein Teil wird verschluckt, so dass er nur den Refrain versteht. „Treat me like a prisoner“. Eine Metapher für den Zeitgeist. Leon wirft sich in die Hype-Arena. Tanzende Körper sprühen Funken – Metall wird durchtrennt. Jede Bewegung hinterlässt lange dunkle Schatten, die sich zu immer neuen Mustern vereinen. Sie docken an und reißen auseinander. Auch Leon sieht seinen Schatten inmitten der fragilen Scherenschnitte auf den aalglatten Betonwänden. Nur sein Schatten scheint anders zu sein. Filigraner, feiner, verletzlicher. Doch erst das Licht lässt auch all die anderen Schatten entstehen. Jedes Staubkorn wirft seinen Schatten. Alle Nuancen des Lichts strahlen auf ihn ein. Leon ist in all den Schatten gefangen. Ein unsichtbares Band verbindet ihn mit dem schwarzen Nichts, das dort am Boden, an den Wänden, plötzlich überall erscheint. Übermächtig. Die Stunden drehen sich um ein Karussell aus Eitelkeiten. Geblendet verlässt er die schwarze Hölle. Er befindet sich in einem Lichttunnel und jagt seine Ängste durch die Nacht. Die Straße liegt da, wie ein dunkler Schnitt in der Landschaft. Er folgt ihr, in der Hoffnung, sein eigenes Ich wiederzufinden. Im ersten Licht des Morgens empfängt er neue Nachrichten. Doch wie mutig wird er sein? Wird er sich gegen das Licht stellen? Wird er eins werden mit dem Licht? Wird er vom Licht verschluckt? Wird er unsichtbar? Oder erstrahlt er im Licht? In seinem Licht. Ja, alle sollten ihn sehen. Leon sieht sich im Scheinwerferlicht ganz oben und alles um ihn ist in absolute Dunkelheit gehüllt. Er ragt aus dem schwarzen Nichts heraus. Verwandelt sich unbemerkt in ein funkensprühendes Gebilde, dessen Strahlen sich messerscharf in die Herzen der Menschen bohren. Licht entzündet kleine Feuerwerke. Kunstwerke von so wunderbarer Schönheit, die jedoch nur er erkennt. Lichtpunkte wechseln die Richtung. Schwarz und Weiß wechseln sich ab. In Lichtgeschwindigkeit trägt ihn die Rauchwolke davon zu einer fernen Galaxie.

REMEMBER

DIE ZEIT ERSCHEINT IM SPIEGEL

WAS FÜR EINE VITA VON WAHNSINN

Die Musik klingt vertraut. Jeder Ton speichert eine Erinnerung. Gegen das Licht gehalten erscheint ihre Silhouette zerbrechlich. Alles ist fiktiv, alles wie feinstes Porzellan, das im Takt des Herzschlags vibriert. Er legt seine Gedanken zur Seite und sie verschwinden im nächsten Augenblick im Meer der Erinnerungen. Entscheiden feine Nuancen, die wie mit einem Glasschneider ihre Herzen zerschnitten haben, über Leben und Tod? Es ist wie ein Handel mit Devotionalien, ein Ablasshandel, ein Tauschgeschäft. Romeo und Julia tauschen ihre Liebe ein. Digitale Phantasien mischen sich zu jener schwarzen Masse, die undurchdringbar scheint. Der weiße Stift fährt über das weiße Blatt und allmählich erwachen die Buchstaben zum Leben. Klar und immer klarer. Sophia liest Zeile für Zeile. Doch nicht die Wörter ergeben einen Sinn, es sind die Abstände der Zeilen, die Abstände der Buchstaben, die ihre eigenen Geschichten erzählen. Die Finger gehorchen nicht mehr, die Tastatur wird zum Abenteuerspielplatz. Zeichen und Buchstaben wechseln einander ab. Shortcuts, Command, Steuerung Alt und D, Strg-C, Strg-D. Alles geschieht in Millisekunden. Icons, Piktogramme, Schriftzeichen, die große weite Welt der Buchstaben liegt vor ihr. Keine Farbe, keine bunten Tupfer, nur schwarz und weiß. Positiv und negativ. Clean, absolut rein. Messerscharfe Konturen schneiden sich ins Papier, tauchen ein in die unregelmäßige Struktur der Oberfläche. Sophia erreichte ein neues Level, wie in einem Computerspiel tastete sie sich voran, immer auf der Suche nach einem neuen Kick, einem neuen digitalen Abenteuer. Die Zeit erscheint im Spiegel der Glückseligkeit. Bleibt einen kurzen Moment, Glücksmomente paaren sich öffentlich in einer Art viraler Sexszene. Von Höhepunkt zu Höhepunkt schweben die Gedanken, die wie Starfighter den klaren Himmel mit ihren weißen Kondensstreifen in kleine überschaubare Spielfelder teilen. Sie hat das Passwort zu ihrem Glück nicht abgespeichert. Sophia versucht die verschiedensten Kombinationen und die aberwitzigsten Verknüpfungen. Erfolglos. Sie hat sich selbst den Zugang versperrt. Sie schwebt in der Cloud wie ein Rokkaku, einer dieser sechseckigen japanischen Kampfdrachen, der wie ein Blatt im Wind dahintreibt, um plötzlich zuzuschlagen. Sie kämpft gegen ihre Seele. Es vollzieht sich eine Metamorphose der ganz besonderen Art. Sie fühlt sich größer als das Leben. Was für eine Vita von Wahnsinn und Vergessen, von Gier und Hass. Bis endlich alles eins wird, ihr Kopf, ihre Seele, ihr Körper. Leise Zwischentöne, zarte Berührungen und doch fehlt die Liebe, die ganz große Liebe. Sie schwebt und fühlt sich wohl und doch bekommt sie bei ihrem Höhenflug Flugangst. Sie beobachtet sich selbstkritisch wie eine Voyeurin, die zwischen Depression und Genie hin- und herspringt. Sie feilt an jedem Wort, an jedem Satz. Sophia erinnert sich an die Feuerschlucker, die Gaukler, die fliegenden Menschen, die manchmal ihre Traurigkeit flankieren. Wird ihr Gerechtigkeit widerfahren? In ihrem Körper leben drei unterschiedlichste Personen, die androgyn-exzentrische Drag-Queen, die brutale Sado-Maso-Frau und die blasierte Mutter. Augenscheinlich steht Sophia sich selbst im Weg. Glück und Unglück im gleichen Atemzug.

TACT

Als ich zum ersten Mal diese Bar betrat, faszinierten mich die unzähligen Flaschen. Ich staunte über die Behändigkeit des Mannes hinter dem Tresen und seine ruhige Art. Ich war erstaunt über seine stoische Ruhe, seine Übersicht und sein Lächeln. Scheinbar blind griff er nach den wunderschönen bauchigen Flaschen, deren Farbigkeit sich im fahlen Licht deutlich abhob. Wie ein Magier entlockte er jeder einzelnen Flasche jene Einzigartigkeit. Er mixte vor meinen Augen mit einer mir unvorstellbaren Leichtigkeit. Die überschwänglichen, geradezu provozierenden Namen der Cocktails spürte ich auf meiner Zunge. Er beherrschte den Rhythmus, den Takt wie ein Dirigent, setzte an den richtigen Stellen Pausen, wechselte von piano zu mezzoforte. Er spielte gekonnt mit den Flaschen und deren Inhalt wie auch mit den illustren Gästen.

ES PRICKELT AUF MEINER HAUT

Eine eigene Welt, in der er sich wohlfühlte, tat sich vor mir auf. Eine Art Unterwelt. Es prickelt auf meiner Haut. Ich fühle Nähe, Verlust, Einsamkeit und Begehren in einer Sekunde, wenn der Alkohol sich durch den Mundraub in die Kehle und weiter in meiner Speiseröhre einätzt. Ein warmes Gefühl der Freiheit zerrt an meinen Lippen, die ausgetrocknet sich nach Liebe sehnen. Ich befeuchte die Haut mit Speichel. Meine Zunge spürt die zerrissene Oberfläche, die wie eine Mondlandschaft daliegt. Meine Nase versucht, einen Geruch wahrzunehmen. Vergeblich. Ich verirre mich im Schattenreich der Sucht. Dann tauche ich nochmals ein in die geheime Welt der Drogen. In ein Meer von Pillen und Tabletten. So überlebensgroß ist der Hauptpreis. Wie ein farbenfrohes Bilderbuch umgibt mich die Welt. Meine kleine Welt, die ich mir selbst erschaffen habe aus Perfektionismus, aus Idealismus, aus Harmonie, aus Ängsten und Träumen. Ich investiere in ein Magic Life voller Sweet Love. Eine Slide Show läuft unbemerkt im Hintergrund. Ich werfe meinen Körper in die Bilderflut. Die Wellen der Erkenntnis überspülen mich. Ich versuche, darauf zu surfen. Die Brandung der Ziellosigkeit wird vor mir sichtbar. In der Gischt der Liebe tauche ich wieder auf. Ebbe und Flut ziehen mich an, stoßen mich ab. Wie ein Apnoe-Taucher versuche ich, immer tiefer in die seelenschwarze Ungewissheit vorzudringen.

ICH FLIEGE IN DIE FERNE GALAXIE

Ich warte ungeduldig auf die Happy Hour. Mein Geschmackssinn verlässt mich nicht. Ich schmecke die Klarheit des Getränkes, mein Tastsinn erfühlt die schlanke Flasche mit der filigranen Prägung am Flaschenhals. Die Kombination aus Schmecken und Tasten, aus Riechen und Hören setzt die Grenzen eng. Erstaunlicherweise konnte ich die Zukunft antizipieren. Und ist alles auch Lichtjahre entfernt, der Mut, die Lügen, die Verzweiflung, die Ungewissheit, ich fliege in die ferne Galaxie. Es gibt kein Tabu, kein unvergesslich, ich nehme die Spur der Lügen auf. Doch was bleibt? Die flüchtigen Stoffe, die meine Nase berühren, eine Mischung aus ganz besonderen Düften. Freizügig präsentiert der Mann hinter der Bar seine neuesten Kreationen. Mit einem Monolog gespickt, erinnert mich die Szene an die unzähligen YouTube Videos, die all die Selbstdarsteller tagtäglich posten, uploaden in der Hoffnung auf Likes, Klicks der Bewunderung. Die hell ausgeleuchtete Realität steht gegen die abgrundtiefe Finsternis in den Herzen der Protagonisten. Die fragile Position des erzählenden Ichs steht im Mittelpunkt der Selbstverständlichkeit. Die omnipräsente Zurschaustellung der Intimität, der Individualität – klärt sie uns auf oder verschließt sie unsere Sicht? Geradezu harmlos stehe ich da mit meiner Weltanschauung. Ich verschränke die Arme, doch die bieten mir keinen Schutz. Es ist eine Grenzerfahrung ohne sichtbare Grenzen. Alles scheint im Fluss. Ich blicke nochmal zurück zum Barmann. Er schenkt mir sein schönstes Lächeln zum Abschied. In meinem Körper explodieren kleine Feuerwerke. Ich falle, suche Halt, alles scheint sinnlos. Bis jemand den Knopf an der PlayStation drückt. Game over.

COMING HOME

19. Februar 2017

„Falco lebt“, dringt es aus den Lautsprechern. Jedes Jahr lebt er neu. Die Magie der Unsterblichkeit. Kleine Glücksmomente lösen sich aus der Atmosphäre. Dekadenz drängt sich vor. Die Schlange wird länger. Er sieht sie vor sich, all die schönen Frauen, die ihre volle Weiblichkeit zur Schau stellen. All die Schönheiten, die in seiner Wahrnehmung Albträume auslöst. Schon wollen seine Hände nach den imaginären Hologrammen greifen, doch er greift ins Leere. Mit aller Kraft stemmt sich seine Phantasie gegen dieses Phänomen. Diese unstillbare Gier verfolgt ihn. Die Gegensätze, die er so liebt, scheinen ihn zu zerstören. Er, der Narzisst, zerbricht an seiner Selbstliebe, er erstickt an den übermächtigen Selbstzweifeln. Und immer wenn er die Geschichte erzählt, seine Geschichte, jede Einzelheit, jedes noch so kleine offenbar unwichtige Detail, dann, ja immer dann strahlen seine Augen, dann funkeln sie, wie kunstvoll geschliffene Diamanten. Er sucht einen Zeitvertreib, ein Spiel, das er jederzeit abbrechen kann. Wie wäre es, wenn er von einen auf den anderen Moment aussteigen würde?

ER BLICKT IN VIRTUELLE REALITÄTEN

Er blickt auf sein Handy. Wie lange reicht der Akku noch? Ist es eine spirituelle Sinnsuche? Besitzt er noch die Freiheit zu glauben? Das Gespür für Leben? Er blickt in virtuelle Realitäten. Tiefgründige Gespräche über den Sinn des Lebens folgen. Er fühlt sich wie eine Insel. Vielerlei Gebäude und steinerne Komplexe ragten in den Himmel, gingen ineinander über und bildeten eine gigantische Betonwüste. Schillernde Farben erreichten seine Augen. Er fühlte sich wohl in diesem Moment und mit dem Gefühl, in der alles eine gleichmäßige Einheit sein sollte, die Luft, die Sonnenstrahlen, der klare Himmel, wie unter einer riesigen Glaskuppel von etwas Unsichtbarem zusammengehalten. Sein Leben hängt an dieser Geschichte.

10. März 2017

ER HINTERFRAGT SEIN DASEIN

Eine Melodie wie aus einem Soundtrack legt sich auf seine Ohren. Geloopte Nachrichten, die wundersamen Töne aus einem Spielautomaten mischen sich mit Wortfetzen und unregelmäßigem Zischen. Akustische Muster, die so weit entfernt klingen. Höhen, Tiefen, leise, laut, Wiederholungen, die wie Heimweh klingen. Er ist wie elektrisiert von all den Eindrücken, den Masken und leblosen Gesichtern. Er durchbricht ein neues Level in einem ungleichen Spiel. Zufällige Entdeckungen werden zu spontanen Geschichten verarbeitet. Er erhebt seine Hände und die Geste wirkt wie eine schon tausend Mal ausgeführte Handlung, die Geste eines Pfarrers, der den Kelch des ewigen Bundes in die Höhe streckt, oder einer Braut, die ihren Strauß in die Höhe wirft. Die Lebenslinien treffen sich im Unendlichen und geben erst im Zusammenhang einen Sinn. Die Chiffre löst sich beinahe selbst auf. Er dreht den Zauberwürfel schnell und immer schneller. Die Farben wechseln, verschwinden und werden überdeckt von seinen flinken Fingern. In diesem Moment verlieren seine Finger den Kontakt und der Zauber ist zu Ende. Er hinterfragt sein Dasein, seine Rolle in dem Spiel. In Zeitlupe fällt er kopfüber in nichts. Hinter einer zerrissenen Dunstschicht erkennt er die Heimat. Überbelichtet, in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Und in großen Lettern erkennt er die Schrift: COMING HOME

ESCAPE

HYSTERIE LIEGT IN DER LUFT

Digitale Strukturen umgeben Tessa. Ihre Perspektiven und ihr Denken laufen wie Programmcodes ab. Die Macht der Vernetzung dringt tief in sie ein. Sie steht an ihrem Lieblingsplatz, einem kleinen See weit außerhalb der Stadt. Die Wasserfläche gleicht einem mit schwarzem Klavierlack überzogenem Boden. Die unzähligen kleinen feinen Poren wirken wie die Haut in ihrem Gesicht. Die reale und die virtuelle Welt verschwimmen vor ihr. Doch plötzlich sieht sie ihn. Sie lässt sich von seiner Schönheit einfangen, genießt seine Bewegungen, beobachtet das Licht auf seinem Gesicht, die Art, wie er aus einer Flasche trinkt. Immer wieder verliert sie ihn aus dem Blick, immer wieder sucht sie ihn. Tessa lässt sich mitziehen von dem Unbekannten ins Unbekannte, in ein anderes Leben. Sie hört neue seltsame Töne. Wechselt die Tonspur. Verlockende Klänge treiben ihre Phantasie an. Monotone Gesänge breiten sich in ihren Gehörgängen aus. Es ist der Gesang von der großen Welt, von unendlicher Verschwendung und Übertreibungen, der Gesang des Verschuldens, Verbrennens und Verglühens, der Gesang des Begehrens und der unendlichen Liebe. Die Lust verleiht ihr starke Energie. Tessa verfolgt nur ein Ziel. Sie fragt sich, ob sie an Wunder glaubt. Sie bräuchte eins. Alle Register von kokett bis naiv zieht sie. Geschminkt mit Sternenstaub verbreitet sie einen betörenden süßlichen Duft. Die Sonne versetzt ihre Haut in ein golden schimmerndes Kunstwerk. Es gibt keine Zweifel, sie wird Zeuge ihrer eigenen Metamorphose. Sie arbeitet wie eine humanoide Maschine, in der die virtuose Transparenz deutlich wird. Hysterie liegt in der Luft. Sie scheint zu zerbrechen an ihrer Gläubigkeit. Tessa flieht in die Unendlichkeit. Sie nimmt all die göttlichen Symbole mit auf ihre Reise. Aspergill und Hostienschale, Ziborium und Monstranz. Sie spürt jede einzelne Perle ihres Rosenkranzes zwischen ihren zarten Fingern. „Gegrüßet seist du.…“ Monotonie erwacht zu einem Ritual. Die immer gleichen Schritte, die immer gleichen Bewegungen, tausend-, ja hunderttausendmal ausgeführt. Neugierig erfasst ihr Blick den Altar. Die goldenen Türen blenden ihre Augen. Versteckt sich dahinter das Paradies oder nur ein trauriges Abbild der Welt, rätselhafter unbegreiflicher, langweiliger?

C-CODE

WORTTÜRME BAUEN SICH VOR IHM AUF

ABGEHOBEN VON DER REALEN WELT

Langsam tippt er das Passwort ein. Seine Finger tanzen über die Tastatur. Nicht immer im gleichen Rhythmus. Er fühlt sich in diesem Augenblick wie ein berühmter Pianist, der große Konzertsäle füllt. Inmitten einer elitären Gesellschaft, die frenetisch Beifall klatscht. Es ist, als ob seine Finger mit den Buchstaben sprechen. Worttürme bauen sich vor ihm auf. Text, nichts als Text. Tim ist programmiert auf Leben. Auf Überleben. In seinem Herz tickt eine Zeitbombe. Alle 60 Sekunden eine Detonation. 1440 Mal täglich. Seine Drogen 0.1.010001, Bits und Bytes. Seine Geschichte erzählt er in Millionen Zeilen undurchdringbarer Quellcodes, die über den dunklen Bildschirm huschen wie kleine Lichtpunkte im Universum. Tims Tastsinn erfühlt die Leerstellen auf seiner inneren Landkarte. Er rast mit Überschallgeschwindigkeit an einer Zeitinsel vorbei. Künstliche Intelligenzen begleiten Tim auf seiner Reise, die er wie in Trance weiter fortsetzt. Dunkle Algorithmen kreuzen die Umlaufbahn seiner Gedanken. Der Sinn von Sprache wird zur Sinnsuche. Wörter zerfallen zu Sternenstaub. Sätze verglühen im Sonnensturm. Geschichten verirren sich in der unendlichen Weite des Andromeda-Nebels. Metadaten reihen sich auf, wie schimmernde kostbare Südseeperlen auf der Perlenkette. Künstliche Intelligenz nimmt den Raum neben ihm ein. Computerviren infizieren alle Lebewesen. Schläft er? Träumt er? Er ist gefangen zwischen Lust und Langeweile. Ist es noch der selbe Himmel, der unter seinen Füßen verglüht? Von Milliarden Funkspitzen durchbohrt, unsichtbar durchtrennt, von Daten überfüllt, von Gigabytes überladen? Tims Hirnströme verlassen die Atmosphäre und verbinden sich mit all dem Datenmüll zu einer neuen Galaxie. Tag und Nacht teilen sich das Firmament. Die Gravitation ist außerhalb jeglicher Reichweite. Er blickt gedankenverloren auf seinen ultraflachen Bildschirm und sieht in hungernde Kinderaugen. Er sieht in das Paradies mit Hindernissen, das im Algorithmus der Zeit dahin schwebt. Abgehoben von der realen Welt. Abgekoppelt wie das Raumschiff Voyageur. Sein Herz klopft, das Leben kommt dazwischen. Tim schnappt nach Luft. Dieses unsichtbare Element, das ihm sein Überleben sichert. Ein letzter Atemzug…

THE UNPREDICTABILITY OF HAPPINESS

EIN SPIEL AUF LEBEN UND TOD

DIE EKSTASE IST FÖRMLICH SPÜRBAR

Schlaftrunken bringt Kimberley ihren makellosen Körper aus dem Bett. Sie dirigiert ihn vorbei an ihrem strahlend kaschmirweißen Traum aus Kleidern und Schuhen. Sie erinnert sich nicht an die letzte Nacht. Trotz ihres fotografischen Gedächtnisses hat sie keinerlei Erinnerung. Wo war sie und mit wem? Ihr Mund ist trocken wie Mondstaub. Über die Treppe gelangt sie in das offene Wohnzimmer. Es ist ein strahlender Sommertag. Das Sonnenlicht blendet sie, wie der Lichtbogen beim Schweißen von Stahlteilen. „After the Love has gone“ von Earth Wind and Fire schallt aus unsichtbaren Lautsprechern. Die Musik bringt ihre Erinnerung an den gestrigen Abend wieder zurück. Da war dieser gut aussehende Mann mit den grauen Schläfen und dem Dreitagesbart. Er lächelte ihr zu. Seine blauen Augen strahlten wie Bergkristalle. Er hatte eine unglaubliche Ausstrahlung. Nach schier endlosen Augenblicken sprach er sie an. Hätte sie da nur im Entferntesten erahnt, dass er ein absoluter Psychopath mit einem ausgeprägten Borderline-Syndrom ist. Ja, sie fand ihn im ersten Moment sehr interessant, vielleicht begehrenswert. Es war ein Spiel. Ein Spiel auf Leben und Tod. Er war unberechenbar, das wusste Kimberley. Könnte sie doch Gedanken lesen. Der Tag war noch jung und hatte doch seine Klarheit verloren. Dichte Wolken ziehen vorbei. Das Glück schien so nah und dann die nackte Angst. Sie konnte im Traum manchmal fliegen. Sie geht ihre skurrilen Geistesblitze nochmals durch. War alles nur Einbildung oder die harte Realität? Sie denkt darüber nach, dass man im Leben keinen Einfluss hat, zu wem man sich hingezogen fühlt, man kann sich hinterher einfach nur wundern. Er gab vor, Broker an der Wallstreet zu sein. Dann hat sie kein Wort mehr verstanden und ihn auch kurzzeitig nicht mehr gesehen. Er ist vom künstlichen silbernen Nebel auf der tennisplatzgroßen Tanzfläche verschlungen worden. Sie tanzen zwischen 100 äußerst jungen Skeletten mit teuren Markenklamotten auf ihrer Haut, die sich hinter ihren Designerbrillen verstecken, überwiegend weiblich. Die Musik des DJ mit Wahlheimat Mallorca dröhnt aus meterhohen Blackboxen. Irrwitzige Remixe laufen auf und ab. Funk, Soul und Groove wechseln sich mit Deep House ab und ergeben ein sich immer schneller drehendes Klangkarusell. Er dreht an den imaginären Reglern. Klangkaskaden fallen auf die sich immer schneller drehenden Figuren herab. Grelle Scheinwerfer tauchen alles in ein mystisches, unwirkliches Licht. Hände suchen irgendwo Halt in der aus Bewegung, Musik und süßlichem Duft bestehenden undurchsichtigen Bühne. Die Ekstase ist förmlich spürbar und überträgt sich auf die glatten schmucklosen Betonwände, deren unspektakuläres Grau alles zu verschlucken sucht. Die Bässe vibrieren in den Knochen, das Herz schlägt im 6/8 Rhythmus, wie nach der erfolgreichen Behandlung mit dem Defibrillator. Champagner spritzt wie Weihwasser auf die unheiligen Körper. Das Stroboskobgewitter wirkt dabei wie die Taube des Heiligen Geistes, der auf alle herniederfällt. Das Dickicht aus Körpern, Stimmen, Rauch und Musikfetzen lockert sich von Minute zu Minute. Da erscheint er wieder, der unsichtbare Fremde. Kimberley zögert eine Sekunde. Wägt ab und dann…

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