Tira Beige Rebeccas Schüler
Rebeccas Schüler
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Tira Beige Rebeccas Schüler

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Als sie aus dem Haus hin­aus­trat, roll­te ihr ein Schwall knis­tern­der Ener­gie ent­ge­gen. Dass sich be­reits um kurz nach halb neun eine so ge­wit­ter­schwe­re At­mo­sphä­re über die Stadt leg­te, war un­ge­wöhn­lich und ver­hei­ßungs­voll. Rebecca sehn­te sich nach Ab­küh­lung, denn schon nach we­ni­gen Schrit­ten be­netz­te Schweiß ihre Stirn. Ihre Wan­gen glüh­ten wie im Fie­ber­wahn. Nicht nur, weil ihr die Hit­ze zu Kopf stieg. Sie glimm­ten vor Auf­re­gung und Neu­gier­de. Was wür­de sie heu­te er­war­ten? Wäh­rend sie Rich­tung Schu­le lief, fan­ta­sier­te sie, wie sie in der Aula vor­ge­stellt wur­de: Wie sie sich er­hob. Wie sie an­ge­gafft und ers­te Ur­tei­le über sie ge­fällt wur­den. Und dann ihre ers­te Stun­de im Kurs. Sie sah eine ge­sichts­lo­se Mas­se an Mäd­chen vor sich sit­zen, da­zwi­schen Ce­d­ric und Li­nus. Wie wür­den die bei­den Jungs re­a­gie­ren, wenn sie fest­stell­ten, dass sie mit ih­rer neu­en Leh­re­rin und Tu­to­rin be­reits Be­kannt­schaft ge­schlos­sen hat­ten? Wür­den sie sich über­haupt an sie er­in­nern oder hat­ten sie die Be­geg­nung in der Dis­co längst aus dem Ge­dächt­nis ge­stri­chen?

Rebecca nä­her­te sich dem Sport­gym­na­si­um. Als sie noch bei der Zei­tung an­ge­stellt war, muss­te sie öf­ter dar­an vor­bei­fah­ren. Ihre Jog­ging­stre­cke führ­te sie eben­falls manch­mal an dem weiß­grau­en, klotz­ar­ti­gen Ge­bäu­de vor­bei. An der gro­ßen Turn­hal­le, an dem Fuß­ball­ra­sen mit dem üp­pi­gen Grün und an der oran­ge schim­mern­den Tar­tan­bahn. Al­les sah ak­ku­rat ge­pflegt aus, wie sie es von ei­ner Schu­le die­ser Aus­rich­tung er­war­te­te. Des Öf­te­ren hat­te sie beim Vor­bei­lau­fen Schü­ler ren­nen, sprin­gen oder spie­len ge­se­hen, ohne zu ah­nen, dass sie hier ir­gend­wann ar­bei­ten wür­de. Heu­te war es so­weit. Sie be­trat den Ein­gang als Leh­re­rin.

Die Ner­vo­si­tät ma­xi­mier­te sich, als sie die Schu­le er­reich­te und ei­ni­ge Schü­ler zeit­gleich mit ihr hin­ein­ström­ten. Noch nahm kaum je­mand No­tiz von ihr. Rebecca steu­er­te wie die Schü­ler der vo­lu­mi­nö­sen Aula zu. Dort ver­lie­ßen ge­ra­de die Fünft- bis Acht­kläss­ler den Saal. Gleich wür­den die Klas­sen 9 bis 12 eine Ein­füh­rung ins neue Schul­jahr er­hal­ten.

Ei­ni­ge Ju­gend­li­che sa­ßen be­reits auf ih­ren Plät­zen und plau­der­ten. Scheu blick­te sich Rebecca im Raum um, als sie nach vorn Rich­tung Büh­ne lief. Je­der Schritt fühl­te sich wie der Gang zum Scha­fott an. Mit je­dem wei­te­ren, den sie nach vorn ab­sol­vier­te, glaub­te sie, die Bli­cke der Schü­ler im Nacken zu spü­ren.

In der ers­ten Rei­he sa­ßen ihre neu­en Kol­le­gen und starr­ten Lö­cher in die Luft. Auf ih­ren Ge­sich­tern ruh­te die Ent­span­nung, wäh­rend Rebeccas Au­gen von Ner­vo­si­tät ge­zeich­net wa­ren. Sie hat­te ge­hofft, dass Ro­bert schon da war. Er hät­te ihr die Kraft ge­ge­ben, die sie jetzt brauch­te, und ih­ren Puls be­ru­higt. Doch er war nicht da.

Mayer stand auf der Tri­bü­ne und fum­mel­te ge­mein­sam mit ei­nem Kol­le­gen am Mi­kro­fon her­um. Rebecca setz­te sich ne­ben eine äl­te­re Kol­le­gin und strich ner­vös über ih­ren Rock. Ihre klatsch­nas­sen Fin­ger rie­ben an­ge­spannt über den Stoff. Ein Blick auf die Uhr. In zehn Mi­nu­ten wür­de die Ein­füh­rung be­gin­nen. Ihre trie­fen­den Hän­de ver­keil­ten sich in­ein­an­der. Rebecca blick­te sich er­neut um. Eine Wand an Ge­sprä­chen drang in ihr Ohr, im­mer wie­der über­tönt durch das Rü­cken von Stüh­len oder das Ra­scheln von Ta­schen. Zwi­schen den vie­len un­be­kann­ten Ge­sich­tern sa­ßen ir­gend­wo Ce­d­ric und Li­nus. Viel­leicht wur­de sie ge­ra­de von ih­nen oder von den Mäd­chen in ih­rem Tu­tor­kurs an­ge­schaut. Lä­cheln, Rebecca. Sie rang sich Freund­lich­keit ab, doch die pri­ckeln­de Ge­spannt­heit ih­rer Ner­ven über­tünch­te schlicht­weg ihre gut ge­mein­ten Vor­sät­ze. Die Mund­win­kel fie­len bei­nah au­to­ma­tisch nach un­ten zu­rück. Da­her dreh­te sich Rebecca weg von der Mas­se der Frem­den und rich­te­te ih­ren Blick starr auf die Büh­ne, auf der Mayer sei­ne Zet­tel sor­tier­te.

»Gu­ten Mor­gen!« Das ers­te be­kann­te Lä­cheln an die­sem Mon­tag­mor­gen. Ro­bert strahl­te sie an. Sicht­lich er­freut, sein wohl­tu­en­des Ge­sicht mit dem schie­fen Mund zu se­hen, grins­te Rebecca ihm ent­ge­gen. »Ich set­ze mich ne­ben dich, wenn das okay ist«, sag­te Ro­bert und nahm den Platz be­reits in An­spruch, noch wäh­rend der Satz sei­ne Lip­pen ver­ließ.

»Auf­ge­regt?«, frag­te er mit­füh­lend und dreh­te sei­nen Kopf zu ihr her­um.

»Und ob«, keuch­te sie an­ge­strengt und fä­chel­te sich Luft mit der Hand zu. Es half nur be­dingt.

»Brauchst du aber nicht zu sein«, be­ru­hig­te Ro­bert. »Der Schul­lei­ter wird grob das neue Schul­jahr vor­stel­len, Mut ma­chen für die an­ste­hen­den Wo­chen und für die Prü­fun­gen im nächs­ten Se­mes­ter. Die neu­en Kol­le­gen wer­den meist gleich nach der Be­grü­ßung vor­ge­stellt. So wie bei der Leh­rer­kon­fe­renz. Du musst nicht auf die Büh­ne ge­hen.«

Sei­ne Wor­te be­sänf­tig­ten Rebeccas ge­spann­te Ner­ven, die kurz vorm Zer­rei­ßen stan­den. Sie dreh­te sich noch ein­mal um und blick­te in die Men­ge der Un­be­kann­ten.

»Tu’s bes­ser nicht«, raun­te ihr Ro­bert zu.

»Was?«

»Dich um­dre­hen. Das macht dich nur noch ner­vö­ser. Du zer­fließt ja jetzt schon vor Auf­re­gung. Ich mer­ke doch, dass du am liebs­ten flüch­ten wür­dest, so auf­ge­kratzt, wie du auf dem Stuhl her­um­rutschst.« Er war ein wirk­lich wach­sa­mer Mensch. Rebecca war gar nicht auf­ge­fal­len, dass sich ihre Bei­ne be­weg­ten. Mal über­kreuzt, mal lang aus­ge­streckt, mal zu Ro­bert ge­neigt, mal nach hin­ten hin an­ge­win­kelt. Doch ihr Kopf konn­te nicht an­ders. Er muss­te sich im­mer­fort um­bli­cken. Als wür­de eine in­ne­re Kraft sie dazu zwin­gen, in die frem­den Ge­sich­ter zu bli­cken.

Un­er­war­tet leg­te sich Ro­berts Hand auf ihr Knie und Rebeccas Kopf schnell­te zu ihm her­um. Mit gro­ßen Au­gen schau­te sie ih­ren Kol­le­gen an. Der aber schien ab­so­lut un­be­ein­druckt von der in­ti­men Ges­te sei­ner Hand zu sein. »Hier­her, Rebecca«, flüs­ter­te er und zog so­gleich sei­ne Hand von ih­rem Knie ab. Er woll­te sie bloß be­ru­hi­gen und ihre Bli­cke nach vorn zwin­gen.

Es schien los­zu­ge­hen, denn Mayer räus­per­te sich ins Mi­kro­fon. Es wur­de sicht­lich lei­ser im Saal.

»Gu­ten Mor­gen!«, schall­te die so­no­re Stim­me des Di­rek­tors durch die Aula und ließ die letz­ten Schwät­zer ver­stum­men. Es folg­te ein mo­ti­vie­ren­des Zi­tat ei­nes Phi­lo­so­phen, das Rebecca so­fort ver­gaß. Sie hör­te kaum den Aus­sa­gen des Schul­lei­ters zu, weil der Druck einen di­cken Klum­pen in ih­rem Hals er­zeug­te und sich schwer auf ihre See­le leg­te. Sie schluck­te ihn hin­un­ter. Das sorg­te nur da­für, dass sich der Kloß in ih­rem Bauch fest­setz­te und als di­cker Bro­cken ihre Ein­ge­wei­de mal­trä­ti­er­te. Am liebs­ten wäre sie auf­ge­sprun­gen und hät­te auf der Stel­le den Raum ver­las­sen. Sie glaub­te, auf ein­mal Durch­fall zu be­kom­men und schleu­nigst auf die Toi­let­te zu müs­sen. Es glu­cker­te und groll­te hör­bar in ih­rem Bauch und Ge­där­men. Der Schweiß rann von ih­rer Stirn, lief an den Schlä­fen hin­ab. Die Hän­de flos­sen weg. Rebeccas Bei­ne wuss­ten nicht mehr, wo sie hin soll­ten. Weg, weg von hier, schri­en sie.

Je mehr Wor­te Mayer ins Mi­kro­fon goss, des­to un­woh­ler fühl­te sich Rebecca in ih­rer Haut. Sie muss­te sich dazu quä­len, auf sei­ne Sät­ze zu hö­ren und nicht auf ih­ren ver­rä­te­rischen Kör­per, der mit Ent­kom­men re­a­gie­ren woll­te. Das ers­te Mal Leh­re­rin nach drei Jah­ren.

»Das neue Schul­jahr bringt uns auch im­mer neue Kol­le­gen.« Mayer wirk­te un­ge­heu­er sou­ve­rän, wie er da vorn an sei­nem Red­ner­pult stand und Herr sei­ner selbst war. Er strahl­te Do­mi­nanz und Be­herr­schung aus. Sein sei­di­ger schwa­r­zer An­zug schim­mer­te im Licht der Büh­nen­be­leuch­tung. Die Schü­ler zoll­ten ihm Ach­tung, denn sei­ne Wor­te brach­ten alle im Saal zum Schwei­gen.

»Ihr wisst, dass Frau Frit­sche im Ba­by­jahr ist. Sie wird ver­tre­ten von Frau Pe­ters.« Mayer rich­te­te sei­nen Blick auf Rebecca und deu­te­te mit ei­ner Hand­be­we­gung an, dass sie auf­ste­hen soll­te. Sie woll­te Stär­ke ausstrah­len, aber ihr Kör­per zwäng­te sich le­dig­lich trä­ge in die Senk­rech­te. Ein flüch­ti­ger Blick, ein kur­z­es Ni­cken über die Köp­fe der An­we­sen­den hin­weg, dann sank Rebecca in ih­ren Stuhl zu­rück. Als wäre sie von ei­nem mehr­stün­di­gen Marsch aus dem Ge­bir­ge wie­der­ge­kom­men. Hat­te sie ge­lä­chelt?

»Frau Pe­ters wird die Tu­to­rin für den Kurs von Frau Frit­sche. Au­ßer­dem über­nimmt sie …« Rebecca war nicht mehr in der Lage, Mayer zu fol­gen. Zu sehr fol­ter­te es sie, dass sie nicht selbst­be­wusst auf­ge­tre­ten war. Die ers­te Stun­de in ih­rem Kurs muss­te un­be­dingt an­ders ab­lau­fen.

Nach an­stren­gen­den zwan­zig Mi­nu­ten be­en­de­te Mayer sei­nen Mo­no­log und entließ die Klas­sen und Kur­se so­wie die Leh­rer in ihre ers­ten ge­mein­sa­men Stun­den. Jetzt muss­ten die or­ga­ni­sa­to­ri­schen Din­ge ge­klärt wer­den. Rebecca woll­te den Schwer­punkt heu­te auf das Ken­nen­ler­nen len­ken.

»Du packst das schon«, lä­chel­te Ro­bert, als Un­ru­he im Saal auf­bran­de­te. Die ers­ten Schü­ler ver­lie­ßen schnat­ternd die Aula und dräng­ten in die Klas­sen­zim­mer. Rebecca blick­te sich scheu nach den Ju­gend­li­chen um, die im­mer zahl­rei­cher als na­men­lo­se Mas­se nach drau­ßen ver­schwan­den.

»Du hast net­te Leu­te in dei­nem Kurs. Die fres­sen dich nicht auf«, be­ru­hig­te Ro­bert. »Wenn du magst, be­glei­te ich dich in dei­nen Raum.« Sein An­ge­bot war lieb ge­meint. Aber wie sähe es aus, wenn der Kol­le­ge sie ab­setz­te wie ein Klein­kind, das in den Kin­der­gar­ten ge­bracht wur­de?

»Dan­ke, ich schaff das al­lein«, sag­te Rebecca. Nicht über­zeu­gend, aber mit der nö­ti­gen Kraft, um ihn zu­frie­den­zu­stel­len.

»Okay. Dann se­hen wir uns in der Früh­stücks­pau­se im Leh­rer­zim­mer?«, hak­te er nach.

Rebecca nö­tig­te sich ein un­si­che­res Kopf­ni­cken ab und ver­ließ mit den letz­ten Ju­gend­li­chen die Aula.

Sie wuss­te, wo sie gleich erst­mals auf ih­ren Kurs tref­fen wür­de. Den Raum hat­te sie aus­ge­kund­schaf­tet, als sie vor ein paar Ta­gen zur Leh­rer­kon­fe­renz er­schie­nen war. Sie woll­te nicht hin. Sie muss­te hin. Dass sie zwei Schü­ler vom Se­hen kann­te, be­schwich­tig­te ei­ner­seits ihr zer­rüt­te­tes Ner­ven­ko­s­tüm. An­de­rer­seits fürch­te­te sie sich vor dem Zu­sam­men­tref­fen. War­um, das wuss­te ihr fla­ckern­der Kör­per wohl selbst nicht ge­nau.

Auf dem Gang war es ru­hig. Die meis­ten Kin­der und Ju­gend­li­chen be­fan­den sich in ih­ren Klas­sen- und Kurs­räu­men. Vie­le Tü­ren wa­ren ge­schlos­sen. Die lau­tes­ten Ge­räu­sche ver­ur­sach­ten ihre Heels, die, Ma­schi­nen­ge­wehr­ku­geln gleich, an den Wän­den des Flurs wi­der­hall­ten. Die Tür zu ih­rem Raum stand of­fen. Ge­mur­mel drang bis auf den Gang hin­aus. Rebecca ver­harr­te in ih­rer Be­we­gung. Ihre At­mung ging ab­ge­hackt und flach. Ein kur­z­es Schlie­ßen der Au­gen brach­te kei­ne Be­ru­hi­gung. Sie strich sich ein letz­tes Mal den Schweiß von der Stirn. Jetzt gab es kein Zu­rück. Der di­cke Klotz in Rebeccas Bauch grum­mel­te ein fins­te­res Lied. Es wäre falsch, sei­ner Me­lo­die zu lau­schen und dem Drang, aus dem Ge­bäu­de zu ver­schwin­den, nach­zu­ge­ben.

Ein tie­fer Atem­zug von der sti­cki­gen Luft des Flu­res, dann presch­te Rebecca in den Kurs­raum hin­ein und flog auf den Lehrer­tisch zu. Sie mein­te, im Ge­hen den Kopf ge­dreht und den Schü­lern eine lei­se Be­grü­ßung durch ihre hoch­ge­zo­ge­nen Mund­win­kel ge­ge­ben zu ha­ben.

Beim Auf­bli­cken zeig­te sie das schöns­te Lä­cheln, das sie sich in die­sem Mo­ment ab­rin­gen konn­te. Ihre Au­gen blie­ben auf den Ge­sich­tern hän­gen. Man­che Mäd­chen de­mon­s­trier­ten of­fen ihre Sym­pa­thie. Wie­der­um an­de­re schau­ten neu­tral nach vorn. Man­che mus­ter­ten Rebecca mit kri­ti­schem Blick. Wel­ches Bild moch­te sie wohl ab­ge­ben? Jetzt, da sie am Lehrer­tisch stand und sich mit ei­ner Hand an der Kan­te fest­krall­te.

Ganz links, auf der letz­ten Bank, sa­ßen Ce­d­ric und Li­nus. Ce­d­rics hüb­sches Ge­sicht konn­te nur glot­zen. Li­nus’ Mund stand of­fen. Sie wuss­ten, wer sie war. So­fort steck­ten bei­de die Köp­fe zu­sam­men und mur­mel­ten sich et­was zu.

»Ich be­grü­ße euch ganz herz­lich«, sag­te Rebecca mit der fes­tes­ten Stim­me, die ihr zur Ver­fü­gung stand. Sie schluck­te einen er­neu­ten Bat­zen Auf­re­gung nach un­ten. »Ich möch­te mich vor­stel­len.« Jetzt lä­chel­te sie. »Mein Name ist Rebecca Pe­ters. Ich wer­de in die­sem Schul­jahr eure Tu­to­rin sein. Au­ßer­dem un­ter­rich­te ich euch im Leis­tungs­kurs Deutsch.« Wie­der ein di­cker Klum­pen im Hals, der ver­schluckt wur­de. »Ich bin et­was auf­ge­regt, wie ihr si­cher se­hen könnt.« Sie lach­te auf, um ihre Hek­tik zu über­spie­len. Man­che Schü­le­rin­nen nick­ten ver­hal­ten. Die Per­son, die die sou­ve­räns­te Hal­tung ausstrah­len soll­te, stand vorn und mach­te al­les an­de­re als einen selbst­si­che­ren Ein­druck.

»Ich bin auch des­we­gen so auf­ge­regt, weil es das ers­te Mal seit Jah­ren ist, dass ich wie­der vor Schü­lern ste­he.« Ge­mur­mel. »Ich bin vor drei Jah­ren in die­se Stadt ge­zo­gen und bin seit­dem nur Mi­ni­jobs und ei­ner An­stel­lung bei ei­ner Zei­tung nach­ge­gan­gen.« Wie­der Ge­tu­schel. »Aber ich bin stu­dier­te Leh­re­rin für Deutsch und Kunst und war an mei­ner letz­ten Schu­le auch als Klas­sen­leh­re­rin tä­tig. Lei­der zwang mich ein Um­zug dazu, mich neu aus­zu­rich­ten.«

Bullshit, Rebecca! Nie­mand soll­te er­fah­ren, was sie wirk­lich hier­her trieb. Die Af­fä­re zu ih­rem ehe­ma­li­gen Schü­ler Elou­an muss­te un­ter al­len Um­stän­den ver­tuscht wer­den. Nie­mals soll­te ihre Ver­gan­gen­heit auf den Tisch kom­men!

»Wenn wir uns bes­ser ken­nen, kön­nen wir gern dar­über spre­chen, wie schwie­rig es ist, ir­gend­wo neu an­zu­fan­gen. Aber heu­te nicht. Heu­te geht es dar­um, dass wir uns ein we­nig ›be­schnup­pern‹.« Rebecca zwang sich zu ei­nem Lä­cheln durch, das ihr nach wie vor schwer­fiel.

»Ich weiß, dass wir nur ein Schul­jahr zu­sam­men ha­ben wer­den. Das reicht viel­leicht ge­ra­de aus, um als Kurs zu­sam­men­zu­wach­sen. Ich möch­te in den kom­men­den Ta­gen mit euch Ein­zel­ge­sprä­che füh­ren. Ich will her­aus­fin­den, was ihr für Men­schen seid, was ihr euch vor­ge­nom­men habt für die­ses Schul­jahr und ich will wis­sen, was ihr mit dem Abi ma­chen wollt. Ich den­ke, dass wir uns vor al­lem wäh­rend der Kurs­fahrt an­nä­hern wer­den.«

Klang das halb­wegs si­cher? Rebecca poch­te mit den Fin­ger­kup­pen auf den Lehrer­tisch. »Okay, dann stellt euch mal vor, da­mit ich euch mit Na­men an­spre­chen kann«, bat sie, setz­te sich hin und er­stell­te einen Sitz­plan. »Gut, be­gin­nen wir bei dir hier vorn.«

Zur Früh­stücks­pau­se ver­ließ Rebecca den Raum und stol­per­te Rich­tung Leh­rer­zim­mer, wo sie hoff­te, auf Ro­bert zu tref­fen. Schon beim Auf­schlie­ßen des Raums pras­sel­te ein laut­star­ker Schwall auf sie ein. Kol­le­gin­nen rann­ten wie auf­ge­scheuch­te Sup­pen­hüh­ner durch das Zim­mer. Ei­ni­ge sa­ßen an den Ti­schen zu­sam­men und aßen ihre mit­ge­brach­ten Früh­stücks­bro­te, wäh­rend sich ei­ner lau­ter als der an­de­re über den ers­ten Schul­tag aus­tausch­te. Auch Ro­bert war mit ei­ner Frau im Ge­spräch ver­sun­ken. Als er Rebecca ent­deck­te, hob er die Hand und wink­te sie her­bei. Als Rebecca am Tisch an­kam, streck­te ihr die äl­te­re Kol­le­gin mit den röt­lich-grau­en Haa­ren die Hand ent­ge­gen und stell­te sich als Sa­bri­na Wink­ler vor, die drit­te Tu­to­rin.

»Und wie war dei­ne ers­te Stun­de im Kurs?«, frag­te sie Rebecca herz­lich. Die neue Kol­le­gin be­saß eine ein­neh­men­de Er­schei­nung. Ihre Sta­tur war sehr kräf­tig. In Kom­bi­na­ti­on mit den kur­z­en Haa­ren wirk­te Sa­bri­na leicht bu­ben­haft. Trotz ih­res re­so­lu­ten Auf­tre­tens er­weck­te sie den Ein­druck, eine Ka­me­ra­din fürs Le­ben zu sein.

»Ich war tie­risch auf­ge­regt«, sag­te Rebecca und ver­senk­te ihre Hand­flä­chen ins Ge­sicht.

»Ach Quatsch!«, rief Sa­bri­na aus und patsch­te ihr auf die Schul­ter. Es war ein ker­ni­ger Hand­schlag. Fast wie bei ei­nem Mann. Auch Sa­bri­nas Stim­me war sehr dun­kel ge­färbt.

»Du hast ganz lie­be Mä­dels drin. Die un­ter­stüt­zen dich bei al­lem, was du mit de­nen vor­hast.«

»Ich habe Rebecca«, schal­te­te sich Ro­bert ins Ge­spräch ein, »schon ge­sagt, dass sie ein­zig Ce­d­ric und Li­nus im Auge be­hal­ten muss.« Aus Sa­bri­nas Mund ent­rang ein keh­li­ges La­chen. Si­cher­lich rauch­te sie schon seit Jah­ren, so me­tal­lisch wie ihre Stimm­la­ge klang.

»Ja, die bei­den sind eine Num­mer für sich«, grien­te Sa­bri­na und ent­blößte ihre gelb­li­chen Zäh­ne.

»Sind mir nicht wei­ter auf­ge­fal­len«, sag­te Rebecca schnell. Tat­säch­lich hat­ten sich die Jungs wäh­rend der Ein­füh­rungs­stun­de be­nom­men. Kei­ner hat ir­gend­ei­nen ko­mi­schen Kom­men­tar ver­lau­ten las­sen. Eine An­spie­lung auf die Dis­co­nacht wäre auch mehr als un­pas­send ge­we­sen.

»Sie ken­nen dich noch nicht«, mein­te Ro­bert und nahm einen Bis­sen von sei­ner Wurst­stul­le. Rebecca be­kam nichts her­un­ter, ob­wohl sie ihre Schnit­te ein­ge­packt mit ins Leh­rer­zim­mer ge­nom­men hat­te. Zu groß war der in­ne­re Bro­cken, den sie seit gut an­dert­halb Stun­den in sich trug.

»So, ich glau­be, wir müs­sen wie­der«, sag­te Sa­bri­na und er­hob sich mit ih­rem gan­zen Ge­wicht vom Stuhl. Mit ei­ner Hand auf der Tisch­kan­te ab­ge­stützt, drück­te sie ih­ren wuch­ti­gen Kör­per nach oben. Dann zwäng­te sie sich an den an­de­ren Kol­le­gen vor­bei, die ihr kei­ne Be­ach­tung schenk­ten. Rebecca be­ob­ach­te­te, wie ihr mas­si­ger Leib beim Ge­hen von ei­ner in die an­de­re Rich­tung schwenk­te. Mit die­sem Aus­se­hen am Sport­gym­na­si­um zu be­ste­hen, war be­stimmt nicht ein­fach. Aber die Kol­le­gin strahl­te die nö­ti­ge Stär­ke aus, die es brauch­te, um als Leh­rer­per­sön­lich­keit ge­ach­tet zu wer­den.

»Wel­che Fä­cher un­ter­rich­tet sie?«, frag­te Rebecca, als Sa­bri­na aus ih­rem Blick­feld ver­schwand.

»Geo­gra­fie«, er­wi­der­te er.

»Nur ein Fach? Dann hat sie si­cher­lich nicht vie­le Stun­den.«

»Man sieht es ihr nicht an, aber bis vor zehn Jah­ren hat Sa­bri­na so­gar Sport un­ter­rich­tet.« Als könn­te er sei­ne Wor­te selbst nicht glau­ben, lach­te Ro­bert nach Be­en­di­gung des Sat­zes laut auf.

»Sa­bri­na ar­bei­tet schon über fünf­zehn Jah­re hier. Ich bin seit acht Jah­ren da­bei. Ich habe sie nie als Sport­leh­re­rin ge­se­hen. Sie hat es mir mal ir­gend­wann ge­sagt, als wir auf Klas­sen­fahrt wa­ren.«

Schon ko­misch, wie sich Men­schen ver­än­dern konn­ten.

»Sie un­ter­rich­tet na­he­zu alle Klas­sen in ih­rem Fach. Ich glau­be über fünf­und­zwan­zig.«

Auf­bruch im Leh­rer­zim­mer. Ro­bert er­hob sich und wünsch­te ihr gu­tes Ge­lin­gen. Rebecca war dank­bar, zwei Kol­le­gen zu ha­ben, die sie un­ter­stütz­ten. Mit die­sem Back­ground konn­te sie ru­hi­gen Ge­wis­sens ins neue Schul­jahr star­ten.

Kapitel 5

Den ers­ten Ar­beits­tag über­stan­den zu ha­ben, war kein Ga­rant da­für, dass die an­de­ren ge­nau­so aal­glatt ab­lie­fen. Am Mitt­woch, als Rebecca ih­ren ei­ge­nen Kurs in Deutsch zu un­ter­rich­ten hat­te, konn­te sie sich einen ers­ten Ein­druck da­von ver­schaf­fen, wer ernst­haft an Li­te­ra­tur in­ter­es­siert war und wer das Fach ge­wählt hat­te, weil der Ma­the-Leis­tungs­kurs zu schwer war. Ce­d­ric und Li­nus schie­nen ein­deu­tig der letz­te­ren Ka­te­go­rie an­zu­ge­hö­ren.

Deutsch war für die ers­te und zwei­te Un­ter­richts­stun­de mit neun­zig Mi­nu­ten an­ge­setzt. Rebecca hat­te ex­tra am Tag da­vor den Ab­lauf pe­ni­bel ge­plant, um einen po­si­ti­ven Ein­druck von sich als Leh­rer­per­sön­lich­keit zu ver­mit­teln. Wie­der stand sie vor dem Spie­gel und wuss­te nicht, mit wel­chen Waf­fen sie heu­te zu­schla­gen soll­te. Mon­tags, mitt­wochs und frei­tags wa­ren die Tage, an de­nen sie ih­ren Leis­tungs­kurs sah. Da­ne­ben über­nahm sie Stun­den in den Klas­sen 9 bis 11 – Jahr­gän­ge, die Rebecca ganz recht wa­ren. So hat­te sie nach­mit­tags aus­rei­chend Zeit, sich dem Sport zu wid­men oder Un­ter­richt vor- und nach­zu­be­rei­ten.

Rebecca ent­schied sich da­für, eine knacki­ge Jeans mit ei­nem en­gen wei­ßen Shirt dar­über an­zu­zie­hen. Ob es die rich­ti­ge Ent­schei­dung war? Das Ge­wit­ter, das am Mon­tag­abend über die Stadt ge­fegt war, hat­te zu­min­dest die brü­ten­de Hit­ze weg­ge­wischt, die die Be­woh­ner ge­lähmt hat­te. Noch hock­te das Biest an der Zim­mer­de­cke und ver­schwand nur müh­sam aus dem Schlaf­zim­mer. Lüf­ten al­lein half nicht, es zu ver­trei­ben. Rebecca schlief bei of­fe­nem Fens­ter und ver­ram­mel­te es, wenn die Son­ne auf die Roll­lä­den knall­te. Bloß um abends fest­zu­stel­len, dass die Wär­me noch im­mer nicht ge­wi­chen war. Ihre en­gen Jeans saug­ten sich au­gen­blick­lich am Bein fest, so sehr schwitz­te sie dar­in. Trotz­dem ging sie mit ih­nen vor dem Be­ginn des Schul­ta­ges hin­aus.

Nun stand sie also vor ih­rem Kurs, in ih­rer Hose, die das Bein fest­zurr­te und mit ih­rem Shirt, das an den Brüs­ten fest­kleb­te. »Wir wer­den uns in die­sem Schul­jahr mit drei wich­ti­gen Wer­ken be­schäf­ti­gen. Als Ers­tes müsst ihr euch das Dra­ma ›Die Räu­ber‹ von Fried­rich Schil­ler be­sor­gen. Wir wer­den näm­lich die Epo­che des Sturm und Drang be­han­deln und die­ses Werk be­spre­chen.«

Aus der hin­ters­ten Rei­he ver­nahm Rebecca ein tie­fes Stöh­nen. Noch konn­te sie nicht un­ter­schei­den, von wel­chem der bei­den Jun­gen es her­rühr­te. Sie ver­mu­te­te, dass es Ce­d­ric war, da er bei­de Au­gen­brau­en in die Höhe zog, als er sich die ISBN-Num­mer, die Rebecca an die Ta­fel an­ge­schrie­ben hat­te, in sei­ne Auf­zeich­nun­gen über­nahm.

»Was ist los, Jungs?«, frag­te sie, nach­dem das Seuf­zen wie ein laut­lo­ser Tor­na­do den Raum er­schüt­tert hat­te.

»Al­les gut, Frau Pe­ters«, fühl­te sich Ce­d­ric an­ge­spro­chen und grins­te schur­kisch in sich hin­ein.

»Ich weiß, dass euch die alte Li­te­ra­tur nicht an­hebt«, konn­te Rebecca sei­nen stil­len Ein­wand nach­voll­zie­hen. »Aber viel­leicht fin­det ihr ein we­nig Ge­fal­len dar­an. Das ist das ers­te Werk von Fried­rich Schil­ler. Er hat es in ei­ner Zeit ge­schrie­ben, in der er sehr hitz­köp­fig war. So wie viel­leicht manch ei­ner von euch. Die­se Stim­mung spürt man in sei­nem Dra­ma. Es geht um zwei ver­fein­de­te Brü­der, die sich um eine Frau und um die vä­ter­li­che Nach­fol­ge strei­ten«, er­klär­te Rebecca. »Ist ziem­lich span­nend. Karl, der äl­te­re der bei­den, schließt sich ei­ner Räu­ber­ban­de an, wäh­rend sein Bru­der Franz ver­sucht, den Va­ter und Ka­rls Ge­lieb­te, Ama­lia, auf sei­ne Sei­te zu zie­hen.«

Rebecca hielt kurz in den Er­läu­te­run­gen inne. »Be­vor wir mit dem Buch ein­stei­gen, wer­den wir uns ein paar Ge­dich­te an­se­hen. Nach der Kurs­fahrt geht es dann so­fort mit der Lek­tü­re los. Ihr soll­tet also bis da­hin das Dra­ma ge­le­sen ha­ben.«

Ce­d­ric ver­kniff sich eine wei­te­re Be­mer­kung, ob­wohl Rebecca spür­te, dass der Pro­test in ihm schwelte.

Kurz vor dem Ende der Dop­pel­stun­de. Rebecca un­ter­drück­te die in der Luft lie­gen­de Auf­bruchs­s­tim­mung, in­dem sie zu ver­ste­hen gab: »Wir wer­den ab mor­gen mit den per­sön­li­chen Ge­sprä­chen be­gin­nen. Ob­wohl wir nur ein Jahr zu­sam­men sein wer­den, möch­te ich euch trotz­dem best­mög­lich ken­nen­ler­nen. Vor al­lem will ich wis­sen, wel­che Stär­ken und Schwä­chen ihr habt. Au­ßer­dem müs­sen wir dar­über re­den, was ihr nach dem Abi mit euch an­fan­gen wollt.«

Sie blät­ter­te in ei­nem Sta­pel Pa­pier.

»Ich habe schon mal ge­schaut, wann ihr Frei­stun­den habt und in wel­cher Stun­de ich frei habe, um mit euch zu spre­chen. Manch­mal müs­sen wir uns in ei­ner Pau­se tref­fen, weil un­se­re Stun­den­plä­ne nicht kom­pa­ti­bel sind. Aber das krie­gen wir in den nächs­ten an­dert­halb Wo­chen hin.«

Rebecca wühl­te in ih­rem Leh­rer­ka­len­der nach Zet­teln, die sie an die Schü­ler aus­ge­ben woll­te. »Ihr er­hal­tet eine Ein­la­dung von mir«, sag­te sie und we­del­te mit den Pa­pier­stü­cken in der Luft her­um. »Dar­auf fin­det ihr eu­ren Ter­min mit mir und ihr er­fahrt, wor­über wir spre­chen wol­len. Lisa, bist du bit­te so lieb und ver­teilst die Ein­la­dun­gen an die Mit­schü­ler?« Rebecca überg­ab ih­rer Schü­le­rin den Sta­pel, den sie eif­rig aus­teil­te. Dann klin­gel­te es zur Pau­se. »Seid bit­te pünkt­lich da. Ich möch­te mit euch ei­ni­ges be­re­den«, schrie Rebecca über die be­reits ent­stan­de­ne Laut­stär­ke hin­weg.

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