Vor dem Haustor sah Fridolin zu dem Fenster auf. Er hat es früher selbst geöffnet.
Die Flügel zitterten leise im Vorfrühlingswind. Die Menschen da und der Tote waren ihm in gleicher Weise gleichgültig. Er selbst war wie entronnen einem Zauber. Als einzige Nachwirkung fühlte er eine merkwürdige Unlust, nach Hause zu gehen. Der Schnee in den Straßen ist geschmolzen. Links und rechts waren kleine schmutzige weiße Häuflein. Die Gasflammen flackerten in den Laternen. Von einer Kirche schlug es elf. Fridolin beschloß: Vor dem Schlafengehen musste er noch eine halbe Stunde in einem stillen Café nahe seiner Wohnung verbringen. Und er nahm den Weg durch den Rathauspark. Auf Bänken saß da und dort ein Paar eng zu einander. Es fühlte sich wie Frühling an. Auf einer Bank lag ein ziemlich schäbiger Mensch. Sein Hut war in die Stirn gedrückt. Wenn ich ihn aufwecke, dachte Fridolin, und ihm Geld für ein Nachtlager schenke? Ach, was muss ich damit tun, dachte er weiter. Dann musste ich morgen auch für Eines sorgen. Sonst gibt es ja keinen Sinn. Und am Ende kann man mich mit ihm noch sträflicher Beziehungen verdächtigen. Und er ging schneller. Er wollte um jeder Art von Verantwortung so rasch als möglich weglaufen. Warum gerade er? fragte er sich. Tausende von solchen armen Teufeln gibt es in Wien. Wenn man sich um die Schicksale aller Unbekannten kümmern wollte! Und der Tote fiel ihm ein. Er hat ihn eben verlassen. Ja nicht ohne Ekel dachte er daran. Und er freute sich, dass er noch lebte. Alle diese häßlichen Dinge waren für ihn noch fern. Ja, er stand noch mitten in seiner Jugend. Er hatte eine reizende und liebenswerte Frau. Und auch noch eine oder mehrere konnte er dazu haben, wenn er es gerade wollte. Natürlich konnte es mehr Zeit für sich selbst haben, als er hatte. Und es fiel ihm ein, dass er morgen um acht Uhr früh auf der Abteilung sein musste. Von elf bis eins musste er Privatpatienten besuchen. Nachmittags von drei bis fünf musste er Ordination halten. Ihm standen auch für die Abendstunden noch einige Krankenbesuche bevor. – Nun – hoffentlich musste er nicht wieder mitten in der Nacht sein.
Er überquerte den Rathausplatz. Dann ging zu seinem Josefstädter Bezirk. Von weitem hörte er dumpfe, regelmäßige Schritte. Er sah, noch ziemlich entfernt, eine kleine Gesellschaft von Couleurstudenten. Sechs oder acht von ihnen. Als die jungen Leute in den Schein einer Laterne waren, konnte er die blauen Alemannen in ihnen erkennen. Er selbst hatte nie einer Verbindung angehört. Aber seinerzeit ein paar Säbelmensuren hat er ausgefochten[19]. Im Zusammenhang mit dieser Erinnerung an seine Studentenzeit fielen ihm die roten Dominos ein. Gestern nacht haben sie ihn in die Loge gelockt. Und so bald wieder haben sie ihn verlassen. Die Studenten waren ganz nahe. Sie redeten laut und lachten. Konnte er nicht einen oder anderen aus dem Hospital kennen? Doch bei der unsicheren Beleuchtung war es nicht möglich. Er musste sich ganz nahe an die Mauer halten. Er wollte mit ihnen nicht zusammenstoßen. Jetzt waren sie vorbei. Nur er ging zuletzt ging. Ein langer Kerl im offnen Winterrock, eine Binde über dem linken Auge, blieb ausgerechnet absichtlich stehen. Er stieß mit dem Ellbogen an ihn an. Es konnte kein Zufall sein. Was fällt dem Kerl ein, dachte Fridolin. Er blieb unwillkürlich stehen. Der andere nach zwei Schritten tat desgleichen. Und so sahen sie einander einen Moment lang aus der Ferne in die Augen. Plötzlich aber wandte Fridolin sich wieder ab und ging weiter. Er hörte ein kurzes Lachen hinter sich. Fridolin verspürte ein sonderbares Herzklopfen ganz wie einmal vor zwölf oder vierzehn Jahren. – Und geradeso wie damals fühlte er jetzt sein Herz klopfen. Was ist das, fragte er sich ärgerlich. Und er merkte nun, dass ihm die Knie ein wenig zitterten. Feig? Unsinn, antwortete er sich selbst. Soll ich etwas mit einem betrunkenen Studenten haben? Ich, ein Mann von fünfunddreißig Jahren, praktischer Arzt, verheiratet, Vater eines Kindes! – Kontrahage! Zeugen! Duell! Und am Ende einen Schlag in den Arm? Und für ein paar Wochen ohne Arbeit? – Oder ein Auge heraus? – Oder gar Blutvergiftung? – Und in acht Tagen wie der Herr in der Schreyvogelgasse unter der Bettdecke aus braunem Flanell! Feig? Drei Säbelmensuren hat er ausgefochten. Und auch zu einem Pistolenduell war er einmal bereit.
Und nicht auf seine Veranlassung hat man die Sache friedlich in Ordnung gebracht. Und sein Beruf! Gefahren von allen Seiten. Und in jedem Augenblick vergass man nur immer wieder daran. Wie lange war es, dass ihm das diphtheritiskranke Kind ins Gesicht gehustet hat? Drei oder vier Tage, nicht mehr. Das war eine gefährliche Sache als so eine kleine Säbelfechterei. Und er hat überhaupt nicht mehr daran gedacht. Nun, wenn er dem Kerl wieder begegnete, musste er die Angelegenheit erledigen. Keineswegs musste er um Mitternacht auf dem Weg von einem Kranken oder auch zu einem Kranken gehen. Es konnte ja schließlich auch der Fall sein. Nein, er war wirklich nicht verpflichtet, auf solch eine Studentenrempelei zu reagieren. Wenn jetzt zum Beispiel der junge Däne ihm entgegenkam, mit dem Albertine. Ach nein, was fiel ihm denn nur ein? Nun – es war ja doch nicht anders, als wenn sie seine Geliebte war. Schlimmer noch. Ja, er sollte ihm jetzt entgegenkommen. Oh, eine wahre Wonne konnte es sein. Er konnte ihm irgendwo in einem Wald gegenüberstehen und auf die Stirn den Lauf einer Pistole richten. Gespenstisch, dachte er. Und auch die Studenten mit den blauen Kappen waren ihm plötzlich gespenstisch in der Erinnerung. Ebenso Marianne, ihr Verlobter, Onkel und Tante.
Er hat sich nun alle, Hand in Hand, um das Totenbett des alten Hofrats vorgestellt. Auch Albertine. Sie hat ihm nun im Geist als tief Schlafende, die Arme unter dem Nacken verschränkt. Sogar sein Kind. Es lag jetzt in dem schmalen weißen Messingbettchen zusammengerollt. Und das rotbäckige Fräulein mit dem Muttermal an der linken Schläfe. Sie alle waren ihm völlig unheimlich eklig. Und in dieser Empfindung war zugleich etwas Beruhigendes. Ihn befreite es von aller Verantwortung. Er konnte sich aus jeder menschlichen Beziehung lösen. Ein Mädchen forderte ihn zum Mitgehen auf. Es war ein zierliches, noch ganz junges Wesen, sehr blaß mit rotgeschminkten Lippen. Konnte gleichfalls mit Tod enden, dachte er, nur nicht so rasch! Auch Feig? Im Grunde ja. Er hörte ihre Schritte, bald ihre Stimme hinter sich. «Willst nicht mitkommen, Doktor?»
Unwillkürlich wandte er sich um. «Woher kennst du mich?» fragte er. «Ich kenne Ihnen nicht», sagte sie, «aber in dem Bezirk sind ja alle Doktors.» Seit seiner Gymnasiastenzeit hat er mit einem Frauenzimmer dieser Art nichts zu tun gehabt. Geriet er plötzlich in seine Knabenjahre zurück? Dieses Geschöpf hat ihn gereizt.
Er erinnerte sich an einen Bekannten, an einen eleganten jungen Mann. Man hat ihm ein fabelhaftes Glück bei Frauen nachgesagt. Als Student hat er mit ihm nach einem Ball in einem Nachtlokal gesessen. Und er entfernte sich mit einer Besucherin. Fridolins Blick hat mit den Worten geantwortet: «Es bleibt immer das Bequemste; – und die Schlimmsten sind es auch nicht.[20]»
«Wie heißt du?» fragte Fridolin.
«Mizzi natürlich.» Schon hat sie den Schlüssel im Haustor umgedreht. Sie trat in den Flur und wartete.
Plötzlich stand er neben ihr. Das Tor machte hinter ihm zu. Sie sperrte ab, zündete ein Wachskerzchen an. – Bin ich verrückt? fragte er sich. Ich werde sie natürlich nicht anrühren.
In ihrem Zimmer brannte eine Öllampe. Sie drehte den Docht weiter auf. Es war ein ganz behaglicher, aber netter Raum. Und jedenfalls roch es da viel angenehmer als zum Beispiel in Mariannens Behausung. Natürlich hat hier kein alter Mann monatelang krank gelegen. Das Mädchen lächelte, näherte sich ohne Zudringlichkeit Fridolin. Er hat sie sanft abgewehrt. Dann wies sie auf einen Schaukelstuhl.
«Bist sehr müde», meinte sie. Er nickte. Und sie zog sich ohne Hast aus: «Na ja, so ein Mann. Er hat so einen Tag. Da ist es uns leichter.»
Er merkte, dass ihre Lippen gar nicht geschminkt. Sondern sie waren von einem natürlichen Rot gefärbt. Er machte ihr ein Kompliment darüber.
«Ja warum soll ich mich denn schminken?» fragte sie. «Was glaubst denn du, wie alt ich bin?»
«Zwanzig?» riet Fridolin.
«Siebzehn», sagte sie, setzte sich auf seinen Schoß. Sie schlang wie ein Kind den Arm um seinen Nacken.
Er dachte: Wer auf der Welt vermuten konnte, dass ich jetzt gerade in diesem Raum bin? Konnte er selbst es für möglich vor einer Stunde, vor zehn Minuten halten? Und – warum? Warum? Sie suchte mit ihren Lippen seine. Er bog sich zurück. Sie sah ihn groß, etwas traurig an. Dann stand sie auf.
Fast tat es ihm leid. Denn in ihren Bewegungen war viel tröstende Zärtlichkeit.
Sie nahm einen roten Schlafrock. Dann presste sie die Arme über der Brust zusammen. So war ihre ganze Gestalt verhüllt.
«Ist es dir jetzt recht?» fragte sie ohne Spott, wie schüchtern. Er wusste kaum, was antworten.
«Du hast es richtig erraten», sagte er dann, «ich bin wirklich müde. Und ich finde es sehr angenehm, hier im Schaukelstuhl zu sitzen und dir einfach zuzuhören. Du hast so eine liebe, sanfte Stimme. Rede nur. Erzähle mir etwas.»
Sie saß auf dem Bett und schüttelte den Kopf.
«Du fürchtest dich einfach», sagte sie leise. Und dann vor sich: «Schade!»
Dieses letzte Wort jagte eine heiße Welle durch sein Blut. Er trat zu ihr hin. Er wollte sie umfassen. Er erklärte ihr, dass sie ihm völliges Vertrauen gibt. Und er sagte sogar die Wahrheit. Er zog sie an sich. Er umwarb sie, wie ein Mädchen, wie eine geliebte Frau. Sie widerstand. Er schämte sich. Und endlich gab auf.
Sie sagte: «Man kann ja nicht wissen. Es muss ja doch irgendwann kommen. Du hast ganz recht, wenn du Angst hast. Und wenn etwas passiert, dann möchtest du mich verfluchen.» Er bot sie das Geld. Aber sie hat es bestimmt abgelehnt. Er gab wieder auf. Sie nahm einen schmalen blauen Wollschal um. Dann zündete sie eine Kerze an, leuchtete ihm, begleitete ihn und sperrte das Tor auf. «Ich bleibe heute schon zu Hause», sagte sie. Er nahm ihre Hand und küsste sie unwillkürlich. Sie sah erstaunt, fast erschrocken zu ihm auf. Dann lachte sie verlegen und beglückt. «Wie einer Fräulein», sagte sie.
Das Tor fiel hinter ihm zu. Fridolin prägte mit einem raschen Blick seinem Gedächtnis die Hausnummer ein. Er wollte dem lieben armen Wesen morgen Wein und Näschereien schicken.