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Andre Alexis Fünfzehn Hunde
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Sie gingen jagen. Das heißt, einige machten sich auf die Suche nach dem, was sie als Futter kannten, und andere verfolgten die Tiere, die sie atavistisch mit Nahrung assoziierten. Sie waren äußerst erfolgreich. Ihr Instinkt führte sie unfehlbar zu den kleinen Tieren – vier Ratten, fünf Eichhörnchen –, die sie mit effizienter Geschicklichkeit töteten. Nach zwei Stunden, als die Morgensonne das Land beschien und den See bläulich grün färbte, hatten sie Ratten, Eichhörnchen, Hot Dog Brötchen, Brocken von Hamburgern, jede Menge Fritten, halbgegessene Äpfel und Konfekt angehäuft, aber alles war so mit Dreck bedeckt, dass man kaum noch etwas davon erkennen konnte. Die einzig wirkliche Enttäuschung war, dass sie es nicht geschafft hatten, auch nur eine Gans zu fangen. Die meisten Hunde mieden die kleinen Tiere und machten sich über die Essensabfälle her. Sie ließen die kopflosen, halbgekauten Reste der Ratten und Eichhörnchen in einer geraden Reihe auf dem Hügel neben dem Boulevard Club liegen.
In den Tagen, die folgten, gab es viele Anzeichen – subtil und eindeutig zugleich –, dass ihre neu erworbene Nachdenklichkeit zu einer kollektiven Veränderung geführt hatte. Zunächst blühte eine neue Sprache unter ihnen auf und änderte die Art und Weise, wie sie sich miteinander verständigten. Diese Veränderung zeigte sich besonders bei Prince. Er fand unaufhörlich Wörter in seinem Kopf, Wörter, die er mit den anderen teilte. Es war Prince, der sich das Wort für »Mensch« einfallen ließ (ungefähr: grrr- ahhi, der Knurrlaut, gefolgt von einem für Menschen typischen Geräusch). Dies war eine bedeutsame Fähigkeit, da die Hunde nun über die Primaten ohne Erwähnung ihrer Herrschaft sprechen konnten. Es war auch Prince, der ersann, was das erste Wortspiel der Hunde genannt werden könnte: das Wort für »bone« in der neuen Sprache (ungefähr: rrr- eye) und das Wort für »stone« (ungefähr: rrr- eeye) ähnelten sich sehr. Als Prince eines Abends gefragt wurde, was er aß, antwortete er »stone« und zeigte auf einen Knochen. Einige Hunde fanden das amüsant, aber auch zutreffend, denn die besagten Knochen waren schwer zu kauen.
Sie wurden auch geschickte Jäger und anspruchsvolle Abfallsucher, als ihnen ihr Territorium vertrauter wurde: Parkdale und High Park, von der Bloor Street bis zum See, von Windemere bis Strachan. Alle lernten schnell die Orte, wo sie zusammenkommen konnten, ohne allzu viel Aufmerksamkeit von Menschen oder Hunden auf sich zu ziehen. Außerdem lernten sie, angespornt durch die Beobachtungen des Sonnenlichts und der Schatten, die Prince anstellte, den Tag in nützliche Einheiten aufzuteilen. Das heißt, gemeinsam entdeckten sie die Zeit, die das quälende Bewusstsein ihres Vergehens milderte. (Der Tag, von Sonnenaufgang bis zum ersten Moment ihres Untergangs, wurde in acht ungleiche Einheiten geteilt, von denen jede einen Namen bekam. Die Nacht, wenn die Welt still zu werden begann, bis zum ersten Vogellärm, wurde in elf Einheiten geteilt. So bestand für die Hunde ihr Tag statt aus vierundzwanzig aus neunzehn Einheiten.)
Es war zum Teil diese neue Beziehung zu Zeit und Ort, die die Einrichtung ihres Verstecks beeinflusste. Atticus, praktisch und überzeugend (obwohl er der neuen Sprache misstraute) schlug vor, sich in ein Stück Wald im High Park zurückzuziehen, eine Lichtung unter einer Anhäufung immergrüner Bäume. Dorthin brachten sie Tennisbälle, Laufschuhe, Kleidung, Decken, Quietschspielzeug … alles, was sie finden oder stehlen konnten, um den Ort behaglicher zu machen. Sie hatten nicht vor, für immer in diesem Waldstück zu bleiben. Es sei, sagte Atticus, behelfsmäßig und vorläufig, ein Ort, um sich nach Einbruch der Dunkelheit zu treffen, aber bald hatten sie das Gefühl, als wäre dort ihr Zuhause. Es roch nach Kiefernharz, Hund und Urin.
Doch das wohl auffälligste Indiz, dass das »Primatendenken« nützlich war, zeigte sich in der Beziehung zwischen Bella und Athena. Die zwei waren völlig unterschiedlich, was Gewicht und Höhe betraf. Sie hatten das gleiche Alter – drei Jahre –, aber Athena brachte kaum vier Pfund auf die Waage, und ihre Beine waren kurz. Sie konnte nicht mithalten, wenn das Rudel losrannte. Bella war über einen Meter groß und wog etwa zweihundert Pfund. Sie lief nicht viel. Vielmehr bewegte sich Bella, auch wenn sie nicht die nachdenklichste war, majestätisch, mit Bedacht. Als sie sah, dass Athena nicht mit den anderen mithalten konnte, und sie sich daran erinnerte, wie ein vierjähriges Mädchen auf ihr geritten war, ließ Bella es zu, dass Athena auf ihrem Rücken saß.
Für Bella war das kein Problem. Sie kniete mit den Vorderbeinen nieder und wartete, bis der Pudel hinaufgeklettert war. Anfangs fiel Athena fast immer sofort wieder herunter, und es tat ihr weh. Doch sie lernte schnell. Nach dem dritten Tag, ihre Krallen benutzend und in Bellas Nacken beißend, um Halt zu finden, befand sich Athena so im Gleichgewicht, dass es schwer gewesen wäre, sie abzuschütteln. Sie bildeten einen seltsamen Anblick. Bella fühlte sich nach einigen Tagen sicher genug, um leicht trabend und arrythmisch zu rennen, wenn sie es wollte. Ihr Widerrist senkte und hob sich, während Athena wie ein Passagier auf dem Vorderdeck eines Schiffes fröhlich auf ihrem Platz ausharrte.
So aufregend das für die beiden auch war – sie fühlten sich bald wie Geschwister – sorgte das Arrangement für das Rudel Ärger. Athena und Bella verursachten ungewollte Aufmerksamkeit. Eines Tages, als die Hunde am Seeufer nach Essbarem suchten, bemerkte eine Gruppe männlicher Jugendlicher Athena auf dem Rücken von Bella. Zuerst amüsiert und dann feixend, begannen sie, den Hunden hinterherzulaufen. Nicht vertraut damit, wie fremd Menschen sind, konnten Bella und Athena den Übermut der Jugendlichen nicht von Aggression oder Abneigung unterscheiden. Die Jungen nahmen Steine und warfen sie auf die Hunde. Bella war nicht schnell, und sie konnte keine lange Strecken laufen, ohne eine Pause zu machen. Nach einer Weile wurde sie langsamer, und ein Stein traf Athena, die vor Schmerz jaulte und von Bellas Rücken fiel. Athenas Unglück und Schmerz rief bei den Menschen noch größere Belustigung hervor. Sie sammelten mehr Steine in der Absicht, den Hunden so viel Leid zuzufügen, wie sie konnten.
Auch wenn Bella von Natur aus ausgeglichen und nur schwer zu reizen war, war sie, als die jungen Männer näherkamen, um Athena besorgt und bereit zu töten. Als einzige List kam ihr in den Sinn, zuerst den größten der Angreifer auszuschalten, und so lief sie knurrend und unbeirrt auf die Gruppe zu. Sie stürzte sich auf den Anführer, bevor er oder einer der anderen reagieren oder wegrennen konnte. Ihre zweihundert Pfund auf ihn werfend, schnappte sie instinktiv nach seiner Kehle und hätte ihm den Hals durchgebissen, hätte er nicht im letzten Moment seinen Arm gehoben. So biss sie tief in seine rechte Hand bis auf den Knochen. Blut spritzte, als er unter ihr aufschrie. Die anderen, obwohl sie mit Steinen bewaffnet waren, sahen wie gelähmt zu. Sie standen bewegungslos und hörten ihren Freund um Hilfe schreien. Ihre Angst gab Bella einen Vorsprung. Sie ließ von dem Jungen ab und rannte direkt zu dem, der ihr am nächsten stand. Schreiend lief er davon und überließ seine Freunde ihrem Schicksal.
Atticus und Majnoun, die in der Nähe nach Nahrung gesucht hatten und durch den Tumult herbeigelockt worden waren, knurrten die Menschen an, rannten hinter ihnen her und sorgten dafür, dass sie nicht zurückkehrten. Nichts aber lag den Menschen ferner. Mit anderen Worten: Ihre Niederlage war schnell und gründlich. Die sechs oder sieben Jungen, keiner von ihnen älter als vierzehn, waren erniedrigt und traumatisiert. Aber als die Hunde sahen, dass Athena nicht schlimm verletzt war – sie hatte geblutet, und über ihrem Auge klebte ein Büschel nasses Fell –, sagte Majnoun:
Das ist nicht gut. Menschen mögen es nicht, wenn man sie beißt. Wir werden unser Revier wechseln müssen.
Ich stimme zu, sagte Atticus, aber warum sollten wir weggehen? Man wird nach diesen beiden hier suchen. Die Hündinnen dürfen sich vorerst nicht sehen lassen. Die große hat den Schaden angerichtet. Hinter ihr werden sie her sein, nicht hinter uns.
Ich stimme nicht zu, und ich widerspreche auch nicht, sagte Majnoun.
Aber die Hunde trafen Vorkehrungen. Bella und Athena suchten nur noch im High Park nach Essbarem und blieben in der Nähe des Waldstücks. Vom Seeufer hielten sie sich fern, und Athena ritt erst nach Einbruch der Dunkelheit, wenn Schatten sie verbargen, auf Bellas Rücken. Die anderen streiften in kleinen Gruppen umher, nie mehr als zwei oder drei zusammen, und zogen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich.
Diese Vorsichtsmaßnahmen richteten sich gegen die Menschen. Nicht dass sie zwangsläufig gefährlich waren, aber sie waren unberechenbar. Während der eine sich niederknien mochte, um deinen Rücken zu tätscheln oder dich am Hals zu kraulen, trat dich ein anderer, der genauso aussah wie der erste, warf Steine oder brachte dich sogar um. Im Allgemeinen war es das Beste, Menschen aus dem Weg zu gehen. Entgegen den Erwartungen ereigneten sich in den ersten Wochen nach ihrer Veränderung die schlimmsten Konfrontationen nicht mit Menschen, sondern mit anderen Hunden. Egal, wie höflich oder zurückhaltend das Rudel sich verhielt, manche Hunde griffen sie sofort an, ohne vorher zu knurren oder die Zähne zu fletschen.
Sie glauben, dass wir schwach sind, sagte Atticus.
Aber so einfach war es nicht. Die Hunde, die sie angriffen, waren aggressiv, aber sie schienen auch Angst zu haben. Sie fürchteten nicht nur die größeren Hunde, Bella oder Atticus, Frick oder Frack. Sie waren auch eingeschüchtert von Dougie, Benjy, Bobbie und Athena, von denen für ein halbwegs großes Lebewesen keiner bedrohlich hätte sein sollen. Die Hunde, die sie nicht auf der Stelle angriffen, verhielten sich manchmal sofort unterwürfig, und das war fast genauso seltsam. Den kleineren Hunden kam es so vor, als ob sie irrtümlich für wilde und übergroße Versionen ihrer selbst gehalten würden.
Die zwölf Hunde reagierten unterschiedlich auf ihren veränderten Status. Atticus fand die Situation unerträglich. Es war traumatisch, von sich selbst zu wissen, dass man ein einfacher Hund ist, aber in einer Welt lebt, in der andere Hunde einen als etwas anderes behandeln. Für Atticus waren all die alten Freuden – an einem Anus schnüffeln, seine Nase dorthin stecken, wo sich die Genitalien befanden, die Hunde mit geringerem Status besteigen – nicht mehr ohne lähmende Befangenheit zu haben. Hierin waren sich Majnoun, Prince, Rosie und er gleich. Die vier neigten zu einer Nachdenklichkeit, auf die alle außer Prince – und bis zu einem gewissen Grad Majnoun – gern verzichtet hätten, um sich wieder in der Gemeinschaft der Hunde zu verlieren. Prince war der einzige, die die Veränderung im Bewusstsein völlig annahm. Es war ihm, als hätte er eine neue Art des Sehens entdeckt, einen Blickwinkel, der alles, was er gewusst hatte, seltsam und wunderbar machte.
Am anderen Ende des Spektrums befanden sich Frick, Frack und der Mischling Max. Auch sie waren durch ihre Selbstbewusstheit beunruhigt, aber sie lernten, das Denken zu unterdrücken. Gewiss benutzten sie ihre neugefundene Intelligenz, blieben aber dabei ihrem alten Hundeleben treu. Wenn sie von unbekannten Hunden herausgefordert wurden, verteidigten sie sich mit lasziver Effizienz, rotteten sich zusammen und behandelten ihre Angreifer, wie sie es mit Schafen getan hätten: Sie bissen ihre Sehnen durch und ließen sie blutend und leidend zurück. Wenn ihnen unterwürfige Hunde begegneten, war ihr Vergnügen genauso intensiv. Die drei fickten alles, was sie ranließ. Auf eine gewisse Weise diente ihre neue (oder andere) Intelligenz dem, was sie als ihr Wesen verstanden: das Hundesein. Sie fühlten, dass die Furcht, die »normale« Hunde ihnen zeigten, berechtigt war.
Tatsächlich waren die Hunde, die Frick, Frack und Max am meisten Ärger bereiteten, die anderen in ihrem Rudel. Ja, die anderen teilten ihre Intelligenz und entwickelten schnell ihre Sprache. Und ja, die anderen waren die einzigen Lebewesen, die sie verstanden. Aber »verstehen«, das nach Denken roch, war das letzte, was sie wollten. »Verstehen« erinnerte sie daran, dass sie trotz ihrer Anstrengungen, wie Hunde zu leben, keine normalen Hunde mehr waren. Was sie von den anderen wollten, war Unterwerfung oder Führerschaft, und beides bekamen sie zunächst nicht.
Von den anderen Hunden war es natürlich Prince, der Frick, Frack und Max am meisten nervte. Prince war ein gewöhnlicher Mischling, sein Fell rostbraun mit einem weißen Fleck auf der Brust. Er war groß, aber seine Veranlagung machte jede physische Bedrohung zunichte. Er war stets verträglich und ließ sich dominieren. Das Irritierende war, dass Prince seltsame Ideen hatte. Er war derjenige, der den Tag in Abschnitte geteilt hatte. Er war derjenige, der endlose Fragen über triviale Dinge stellte: über Menschen, über den See, über Bäume, über seine Lieblingsgerüche (Vogelfleisch, Gras, Hot Dogs), über die gelbe Scheibe über ihnen, in deren Licht man sich wärmen konnte. Die drei Hunde hatten natürlich Princes Wortspiel mit »bone« und »stone« gehasst. Und er hörte nicht damit auf. Von den anderen bestärkt, war sein Spiel mit der Sprache ein ständiger Affront gegen Klarheit.
Es schien Frick und Frack, als hätte Prince die Absicht, ihr Gemüt zu zerstören.
Aber Princes Sprachwitz war nicht das Schlimmste. Früher mussten sie sich wie alle Hunde mit einem einfachen Vokabular fundamentaler Geräusche begnügen: Bellen, Jaulen oder Knurren. Diese Geräusche waren akzeptabel wie auch die nützlichen Erfindungen für Worte wie »Wasser« oder »Mensch«. Nun jedoch hatte das Rudel auf Princes Betreiben hin Worte für zahllose Dinge. (Brauchte wirklich irgendein Hund ein Wort für »Staub«?) Eines Abends setzte sich Prince aufrecht hin und sprach eine seltsame Anhäufung von Worten:
The grass is wet on the hill.
The sky has no end.
For the dog who waits for his mistress,
Madge, noon comes again.
Das Gras ist feucht auf dem Hügel.
Der Himmel hat kein Ende.
Für den Hund, der auf sein Frauchen wartet,
Madge, die Mittagsstunde kommt wieder.
Als Frick und Frack diese Komposition aus Knurren, Bellen, Jaulen und Seufzen hörten, waren sie aufgesprungen, bereit, dem Frauchen des erschöpften Hundes ins Gesicht zu beißen. Sie nahmen an, dass ein Besitzer aufgetaucht war, der ihnen Schmerzen zufügen wollte. Aber Princes Worte waren nicht als Warnung gedacht. Vielmehr hatte er gespielt. Er hatte nur so getan. Er hatte gesprochen um des Sprechens willen. Konnte es einen widerwärtigeren Gebrauch für Worte geben? Max sprang auf, knurrend und bereit zu beißen.
Er hatte jedoch nicht mit dem Vergnügen gerechnet, das Princes Worte einigen Hunden bereitete. Athena dankte Prince für das Heraufbeschwören feuchter Hügel und endloser Himmel. Bella tat das Gleiche. Einige Hunde fühlten, dass Prince nicht ihre Sprache missbraucht, sondern ihr mit seinem Wortspiel etwas Unerwartetes und Wunderbares hinzugefügt hatte.
Ich war gerührt, sagte Majnoun. Bitte, mach es noch einmal. Prince gab weitere Geräusche von sich, eine Folge von Heulen, Bellen, Jaulen und Schnalzen.
Beyond the hills, a master is
who knows our secret names.
With bell and bones, he’ll call us home,
winter, fall or spring.
Jenseits der Hügel ist ein Besitzer
der unsere geheimen Namen kennt.
Mit Glocke und Knochen ruft er uns heim,
Winter, Herbst oder Frühling.
Die meisten Hunde saßen schweigend da und gaben sich große Mühe zu verstehen, wovon Prince redete. Für Max aber war es zu viel. Prince verdrehte nicht nur ihre klare, noble Sprache, er hatte auch das Hundesein verlassen. Kein echter Hund hätte einen solchen Quatsch von sich geben können. Prince war nicht würdig, einer von ihnen zu sein. Zur Verteidigung ihrer wahren Natur musste jemand etwas tun. Max spürte, dass Frick und Frack genauso fühlten, aber er wollte der erste sein, der Prince zur Unterwerfung oder ins Exil zwang. Er ging auf Prince los, ohne auch nur zu knurren. Prince war ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er wollte dem Mischling gerade in die Kehle beißen, da kam Majnoun so ruhig und brutal, wie Max attackiert hatte, Prince zu Hilfe. Bevor Frick oder Frack intervenieren konnte, hatte Majnoun Max unten, seine Zähne an Max’ Hals. Max pinkelte als Zeichen der Unterwerfung und lag still.
Töte ihn nicht, sagte Frack.
Majnoun knurrte warnend, biss stärker zu, Blut floss.
Der Hund hat Recht, sagte Atticus. Es ist nicht gut, einen von uns zu töten.
Majnoun fühlte mit jeder Faser seines Körpers, dass es richtig wäre, Max zu töten. Es war, als wüsste er, dass die Zeit kommen würde, da er ihn töten musste. Also warum nicht jetzt? Aber er hörte auf Atticus und ließ Max los, der schnell wegschlich, den Schwanz zwischen den Beinen.
Gewalt war nicht nötig, sagte Atticus. Der Hund versuchte nur, seine Gefühle zu zeigen für die Worte, die wir hörten.
Seine Gefühle hat er nicht verborgen, sagte Majnoun.
Du hast ihm seinen Platz gezeigt, sagte Atticus. Du hast richtig gehandelt.
Abgesehen von Frack und Frick – die sich jedem Gedanken verweigerten – waren die meisten Hunde von dem Zwischenfall verwirrt. Früher hätte man gesagt, sie hätten einen Kampf um Dominanz miterlebt, einen Kampf, den Majnoun eindeutig gewonnen und der so seinen Status erhöht hatte. Aber hier gab es die Sache mit Prince. Prince hatte Max beleidigt. Seine Worte hatten beleidigt. Hatten Majnoun und Max also um Worte oder Status gestritten? Konnten Hunde wegen Worte sich auf Leben und Tod bekämpfen? Ein merkwürdiger Gedanke.
Als Bella und Athena nebeneinander lagen und in den Schlaf dämmerten, sagte Athena:
Diese Männchen kämpfen aus jedem beliebigen Grund.
Es hat nichts mit uns zu tun, sagte Bella.
Damit hatte es sein Bewenden, soweit es sie betraf, und die beiden waren bald eingeschlafen. Athena knurrte im Traum leise ein Eichhörnchen an, das viel kleiner war als sie und sie mit Absicht reizte.
Zwei Tage nach dem Aufruhr sprach Atticus mit Majnoun.
Der Herbst war gekommen. Die Blätter änderten ihre Farbe. Die Nächte schienen dunkler zu sein, weil sie nun kälter waren. Das Rudel hatte sich eine Routine angewöhnt: Nahrung suchen, Menschen vermeiden, Ratten und Eichhörnchen jagen. Das Waldstück gewährte Schutz vor Regen und Stürmen. Obwohl es nur als zeitweilige Unterkunft gedacht war, ein Ort, an dem sie nachdenken konnten über das, was mit ihnen geschehen war, war das Wäldchen ein Zuhause geworden, und sie konnten sich kaum noch vorstellen, es aufzugeben.
Majnoun hatte irgendeinen Annährungsversuch von Frick, Frack, Max oder Atticus erwartet. Er hatte erwartet, dass einer von ihnen die Sache der Anführerschaft zur Sprache bringen würde. Das Rudel hatte eine Zeitlang auf einen Anführer verzichtet, eine unnatürliche Situation. Und wenn er selbst auch nicht führen wollte, wäre es für die anderen beleidigend gewesen, Atticus – den wahrscheinlichsten Kandidaten – dem Rudel aufzuzwingen, ohne zuerst seine (also Majnouns) Meinung zu erfragen. Früher hätten sie zweifellos darum gekämpft. Aber nach der Veränderung, die über sie gekommen war, schien Majnoun zumindest eine physische Auseinandersetzung nicht mehr der beste Weg zu sein, eine so komplizierte Sache wie die Führung eines Rudels zu lösen.
(Wie seltsam die Veränderung war! Eines Tages, als Majnoun Menschen zuhörte, die mit ihrem Lieblingstier sprachen, machte er eine merkwürdige Erfahrung. Es war, als hätte die Sonne einen dichten Morgennebel wie einen Vorhand weggeschoben. Er verstand, was die Menschen sagten! Und nicht nur einige Wörter – Wörter, die er selbst tausendmal gehört hatte. Er glaubte, die Gedanken dahinter zu verstehen. Soweit Majnoun wusste, hatte noch nie ein Hund einen Menschen so verstanden wie er in diesem Moment. Er war sich nicht sicher, ob er verflucht oder gesegnet war, aber diese neue Sache – dieses Verstehen – verlangte natürlich eine Veränderung im Verhalten, etwas, das ihnen half, mit der unverminderten Fremdheit der Welt fertig zu werden.)
Majnoun und Atticus liefen zusammen aus dem Wald in den Park. Der Himmel war voller Sterne. Alles war ruhig, außer dem endlosen Lärm der Grillen, die auch die kühle Nacht nicht verstummen ließ.
Was werden wir jetzt tun?, fragte Atticus.
Die Frage war eine Überraschung.
Wogegen?, antwortete Majnoun.
Ich habe die falsche Frage gestellt, sagte Atticus. Ich meine, wie sollen wir leben, nun da wir Fremde unter unsresgleichen sind?
Mit Recht haben sie Angst vor uns, sagte Majnoun. Wir denken nicht mehr wie sie.
Aber wir fühlen noch wie sie, nicht wahr? Ich erinnere mich, was ich vor jener Nacht war. Ich bin nicht so anders.
Ich kannte dich vorher nicht, sagte Majnoun, aber ich kenne dich jetzt, und nun bist du anders.
Einige von uns, sagte Atticus, glauben, dass es am besten ist, das neue Denken nicht zu beachten und nicht mehr die neuen Worte zu benutzen.
Wie kann man die Worte im Kopf zum Schweigen bringen?
Niemand kann das, aber man kann sie überhören. Wir können zu der alten Lebensweise zurückkehren. Dieses neue Denken führt weg vom Rudel, aber ein Hund ist kein Hund, wenn er nicht dazu gehört.
Das sehe ich nicht so, sagte Majnoun. Wir haben diese neue Art. Sie ist uns geschenkt worden. Warum sollten wir sie nicht gebrauchen? Vielleicht gibt es einen Grund für unsere Verschiedenheit.
Ich habe nicht vergessen, sagte Atticus, wie es war, mit den anderen zu rennen. Aber du, du willst denken, immer weiter denken und dann wieder denken. Was ist das Gute an so viel Denken? Ich bin wie du. Ich kann Gefallen daran finden, aber es bringt uns keinen Vorteil. Es hält uns davon ab, Hunde zu sein, und es hält uns von dem fern, was richtig ist.
Wir wissen Dinge, die andere Hunde nicht wissen. Können wir sie ihnen nicht beibringen?
Nein, sagte Atticus. Nun ist es an ihnen, uns zu lehren. Wir müssen lernen, wieder Hunde zu sein.
Hund, warum willst du meine Gedanken zu diesen Dingen wissen? Ist es dein Wunsch, der Anführer zu werden?
Würdest du mich herausfordern?
Nein, sagte Majnoun.
Die beiden Hunde saßen eine Zeitlang zusammen und horchten auf die Geräusche der Nacht. Im Park wimmelte es von unsichtbarem Leben. Über ihnen war eine Weite so neu und unvergleichlich, wie sie alt war. Keiner von ihnen hatte je den Sternen und dem Nachthimmel viel Aufmerksamkeit geschenkt. Nun machten sie sich ungewollt Gedanken darüber.
Ich frage mich, ob der Hund, der so seltsam redet, Recht hat, sagte Atticus. Hat der Himmel wirklich kein Ende?
Der Hund hat schöne Gedanken, sagte Majnoun, aber er weiß nicht mehr als wir.
Glaubst du, dass wir das je wissen werden?
Majnoun kämpfte mit der Frage und mit den Gedanken in seinem Kopf. Alles schien manchmal so hoffnungslos verworren. Er fragte sich, ob Atticus am Ende nicht doch Recht hatte. Vielleicht war es am besten, ein Hund zu sein, wie Hunde immer gewesen waren: nicht durch Denken von anderen getrennt, sondern Teil der Gemeinschaft. Vielleicht war alles andere sinnlos oder schlimmer noch eine Illusion, die einen vom Guten entfernte. Aber wenn auch ihre neue Art zu denken lästig war – ein Qual manchmal –, war sie nun ein Teil von ihnen. Warum sollten sie sich davon abwenden?
Eines Tages, sagte Majnoun, wissen wir vielleicht, wo der Himmel endet.
Ja, sagte Atticus, eines Tages oder auch nicht.
Majnouns Instinkte waren intakt. Er hatte ein Zwiegespräch über die Führerschaft vorhergesehen, und obwohl Atticus die Diskussion vage gehalten hatte, war es um Macht gegangen. Majnoun hatte jedoch nicht alle Nuancen erfasst. Atticus interessierte sich nicht dafür, ob Majnoun ihn als Anführer herausfordern würde oder nicht. Atticus war größer als Majnoun, und außerdem hatte er Frick, Frack, Max und Rosie auf seiner Seite. Was Atticus wirklich erkunden wollte, war, ob Majnoun zum Rudel gehörte, angesichts der Richtung, die er, Atticus, für es gewählt hatte. Ohne es zu wissen hatte Majnoun Atticus all die Informationen gegeben, die er brauchte.
Am folgenden Tag, als sie auf Nahrungssuche sein sollten, trafen sich Frick, Frack, Max und Atticus am See auf der anderen Seite der Humber Bay Arch Bridge, weit weg von den anderen, weg von den Hunden ohne Leine.
